Die Wirklichkeit ist eine Diva

■ „Lyckenbüßer“: Radio Bremen dreht kleine Lyrik-Sendereihe an Original-Orten

Drehtatort Amtsstube. Von links: Regisseur Hans Helge Ott, Gedichtaufsager Hans Kemner und ein unbekanntes Laien-Original in angestammter Tracht.Foto: Jörg Oberheide

Bleibt die Sonne und wenn ja: soll sie bleiben? Quietscht die Türe und wenn ja: wie nicht? Kann der Polizeiwagen so stehenbleiben und wenn nein: was dann? Ja, das Fernsehen hat's nicht leicht mit der Wirklichkeit. Kaum ist sie weg, kommt sie wieder und ist un

„Warum zum Teufel ist der Polizeifunk abgestellt? Draußen im Feindesland irren kopflose Kollegen durch die Straßen!“

gelegen und eine Diva. Vergißt prinzipiell ihren Text und will von hinten bis vorne berücksichtigt werden.

Wir sind vor Ort beim Drehen von Radio Bremens klitzekleiner neuer Sendereihe „Lyckenbüßer“, die uns ab Spätsommer die paar Minütlein vor „Buten und Binnen“ vertreiben soll. Das y ist geliehen von „Lyrik“, und um die geht's. Lyrik, an sich bildungsgut, soll nun nicht schlechtgemacht werden, aber sie soll sich rezitativ bewähren im Angesicht des Volkes. Das Kamerateam ist Bewährungshelferin.

Es ist 10. Drehtag: die Lyrik hat sich auf dem „3. Polizeirevier“ zu bewähren. Wir sind draußen und es ist Tag: Rezitator Hans Kemner wartet fein gemacht auf den Ruf der Kamera und soll nicht zur Pfütze hin, sondern um die Pfütze rumlaufen. Kamera läuft, Kemner auch, Obacht, Polizeibus unaufgefordert von links, gefüllt mit Wachtmeistern. Wir warten auf Festgenommene.

Okay: Kamera läuft, Kemner auch, haaalt, falsch! Bei Haken

hierhin bitte das

Foto von der Polizeistube

mit Kamerateam

schlagen bitte vorher der Kamera Bescheid sagen! Kemner zurück ins Eckchen! Okay: Kamera läuft, Kemner auch, unaufgefordert Sondereinsatzkommando von links zurück vom Sondereinsatz! Wir warten auf Diebesgut. Okay: Kamera läuft, Kemner auch, von links alles frei, Vögel von oben: tirili, kann eingebaut werden. Kemner erreicht wohlbehalten das 3. Polizeirevier, woraus ein Junkie fällt. Aber die Szene steht, nochmal gut gegangen!

Drinnen die Polizei ist eitel wachsam. Polizeihauptmeister Reimers (A 9) und Polizeihauptkommissar Kanngießer (A 12) sitzen hinterm Tresen und bekämpfen telefonisch das Verbrechen. Die Kommando-Gäng schleppt rhythmisch Diebesgut und ginge glatt als running gag durch. Jetzt aber Achtung, Scheinwerfer an, Herr Reimers und Herr Kanngießer werden eingepudert und halten still. Eindeutig stört der Polizeifunk.

Jetzt: wie Verbrechen bekämpfen trotz Laienspiel? Verstohlene Anarchie im Polizeirevier: darf mann auf solchem Sondereinsatz Polizeifunk abstellen? Wird das Verbrechen solange ruhen? Vielleicht, wenn die Kamera schnell losläuft? Okayokay: Der Rezitator steht am Tresen und konfrontiert Herrn Reimers und Herrn Kanngießer mit Morgenstern: „Palmström, etwas schon an Jahren, wird an einer Straßenbeuge und von einem Kraftfahrzeuge ...“. Von hinten eine Tür quietscht, zwei Damen mit Finde- Portemonnaie wollen herein und müssen hereingelassen werden. Wir warten auf den Finderlohn.

Okay: Kamera läuft: „Palmström, etwas schon an Jahren, / wird an einer Straßenbeuge / und von einem Kraftfahrzeuge überfahren...“ . Von hinten die Tür kracht, der Hauptwachtmeister will herein und muß hereingelassen werden: Warum zum Teufel schweigt der Polizeifunk?!! Das Verbrechen ruht doch nicht!! Draußen im Feindesland irren kopflose Kollegen durch die Straßen und wissen nicht vor und zurück!! Der Hauptmeister und der Hauptkommissar rücken enger zusammen und blicken tapfer in die Kamera.

Okay: Kamera läuft: „Palmström etwas schon an Jahren, / wird an einer Straßenbeuge / und von einem Kraftfahrzeuge / überfahren. / 'Wie war' (spricht er, sich erhebend / und entschlossen weiterlebend) / 'möglich, dies Unglück, ja —: daß es überhaupt geschah? / Ist die Staatskunst anzuklagen / in Bezug auf Kraftfahrwagen? / Gab die Polizeivorschrift / hier dem Fahrer freie Trift?' (...)“ Herr Reimers und Herr Kanngießer lauschen angespannt und kucken Herrn Kemner ins Gesicht wie in einem Kreuzverhör, das liegt aber nur am vielen Scheinwerferlicht. Dann ist das schöne Gedicht, wie Herr Kanngießer findet, vorbei.

Jetzt noch schnell ein Gegenschuß von hinter'm Tresen, bevor der Hauptwachtmeister zurückkommt. Noch einmal wird es stille. Guter alter Morgenstern, war das dein Wille? Claudia Kohlhase