Berlin, was kommt da auf uns zu?

■ Die beste Rede, die am Donnerstag im Bundestag gehalten wurde, stammt vom baden-württembergischen SPD-Abgeordneten Gert Weisskirchen/ »In Berlin blicken wir auf die Wüste, die wir uns hinterlassen haben — sie ruft nach neuem Leben«

Bonn, unsere kleine Stadt, liebenswerte Flußlandschaft. Wer über die Sieben Berge kommt, sieht sie an den Rhein geschmiegt, über 2.000 Jahre, bonum castrum, gewachsen aus römischer Siedlung, ein Zeichen der Dauer. Sie sieht heil aus, man kann eine lange Weile gut in ihr leben. Das ist viel auf der Folie unseres, des 20. Jahrhunderts, in das Hitler in den Namen Deutschlands unauslöschlich eingebrannt hat: Holocaust.

Das ist Bonn, nach 40 Jahren, die Begründung einer neuen Tradition, hier konnte im Wechselspiel von Regierung und Opposition unsere, die alte, Bundesrepublik aus ihren zivilen Häutungen eine neue Demokratie herauswachsen, mit festem Blick über den Rhein in die Nationen des Westens. Anders als wir, waren sie geboren in Revolutionen. Unsere demokratischen Anfänge waren spät, zaghaft, in sich gespalten wie unser Land. Die parlamentarische Demokratie wurde uns verliehen. Ihr verordneter Charakter trägt bis heute die Angst vor dem Volk in sich. Bonn, schön anzusehen, Konrad Adenauer hatte es sich ausersehen. Es war nahe genug an Köln, das schalkhaft Heilige, das einmal ein geistlicher Herrscher hat fliehen müssen, weil das Kölner Bürgertum aufbegehrte. So wurde Bonn zum ersten Mal Residenz. Aber auch das war Bonn, die dunkle Seite: die Universität, die Thomas Mann 1933 die Ehrendoktorwürde nahm. [...]

Berlin, was kommt da auf uns zu? Bonn, das ist der status quo. Die Rituale sind eingeschliffen, die Kontroversen abgesteckt. Laut kann es mal werden im Streit, aber man kennt sich. Die Enge führt uns schon zusammen. Jeder — fast jeder — hat schon seinen Platz. Kein Volk, das stört.

Berlin, sagt Klaus Harpprecht, »Berlin aber ist keine Stadt des Westens.« Berlin, das ist die Unglückliche, explodiert im Taumel der Modernisierungsschübe des 19. Jahrhunderts; »immerfort zu werden und niemals zu sein«, wie Karl Scheffler treffend bemerkte. Berlin war nie die feste Burg, wie Herrscher ihre Hauptstadt wollen, sie blieb zahm und unberechenbar, unruhig gegen die Obrigkeit, geduldig gegen Querdenkende, aufnahmebereit gegen die Verängstigten.

Carl Zuckmayer, aus der Nähe meiner Heimat, sagte, als er Berlin, das Verfolgten Unterschlupf bot, vor den Nazis flüchten mußte: »Von keinem Ort ... war es so schwer, sich zu trennen. Die Hälfte unseres Lebens blieb zurück.«

Der Große Friedrich litt an Berlin, weil die »quärulierenden Einwohner ... meine Gnade zu sehr mißbrauchen und sie mir sogar mit Undank belohnen.« Berlin — das war nicht die Hauptstadt der preußischen Militärs. Berlin — das war auch die Stadt der großen Reformen des beginnenden 19. Jahrhunderts, des widersprüchlichen Versuchs der Versöhnung zwischen Aufklärung, Bürgertum und den Frühreformen der erwachenden Arbeiterbewegung, der erstickten Revolution von 1848. Berlin, durch die Zeitläufte, Stadt der Ungleichzeitigkeit; von der Dahlemer Villa im grünen Westen zur Marzahner graubetonierten Wüste quert sie Kiez, Flaniermeile, die Arenen des Punk, den Sprung von Marx zu Madonna, Wohnidyll, Biotop, Ausländerghetto, Asphaltorgie, Kulturdenkmal — schrill und zart und unbarmherzig. Das schroffe Gegeneinander der unerhörten Solitäre, die Museumsinsel auf der einen Seite der Magistralen, die das Herz der Stadt schneidet, die Oper auf der anderen: steinerne Zeugen. Auf sie sollte antworten jenseits der Spree die Asbest-Ruine, einst gedacht als Prunk der DDR, mißraten zu lächerlichem Protz — die Volkskammer. Beziehungslos, so scheint es auf den ersten Blick, die neuen Solitäre im Westen — die Staatsbibliothek, die Philharmonie und zuvor schon die Kongreßhalle. Sie sollen die Alternative der Freiheit des Westens visualisieren und erhoben sich zum Trotz gegen den planen Aufmarschplatz, der den Namen Alexander tragen muß, eine Gebärde der architektonischen Hilflosigkeit, gerichtet gegen den Willen des Volkes, sich wiederzufinden bei Franz Biberkopfs Versuch, die innere Reinheit zu behaupten gegen die schmutzigen Versuchungen einer tosenden Zeit. Und die Ironie wollte es, daß das Volk in der DDR eben diesen öffentlichen Raum in seinen Besitz nahm und durch seine friedvolle Gewalt die Mauer zerbrach. Am 4. November 1989 lebte es seine Tradition des Umbruchs, knüpfte es wieder an seine revolutionäre Kraft vom November 1918 und an die Freiheit, an die Gleichheit, an die Geschwisterlichkeit, die Quellen des heißen Stromes. Berlin erinnert an die deutschen Zusammenbrüche anders, hier bleiben die Umbrüche bewußt, die Aufbrüche lebendig. Die Sprünge der Zeit, ihre Zerrissenheit, ihr Stillstand, der zur Veränderung treibt, hier entsteht das Laboratorium für das 21. Jahrhundert.

Berlin, sagt ein italienischer Freund, Luigi Ferraris, »Berlin ist weit entfernt vom Kern des heutigen Deutschlands«. Ja; Berlin ist entfernt vom tonlosen Lärm des ökonomischen Booms. Berlin ist nahe den Menschen, die auf uns warten. Berlin ist nahe dem Leiden, der vergessenen Reste des mörderischen, des letzten Krieges, den Deutsche vom Zaune brachen. Jetzt, nach den schönen Tagen des Herbstes der Revolution, stürzt der Osten in ein Wechselbad, heraus aus ungeliebter Geborgenheit hinein in grenzenlose Entfremdung.

Berlin wird der Testfall für unsere Fähigkeiten, ob Europa aus der inneren solidarischen Kraft der Menschen zusammenwachsen kann oder ob nicht doch Abschottung triumphieren wird. Eine Entscheidung gegen Berlin könnte auch gedeutet werden als Verdrängung. Eine Entscheidung gegen Berlin wäre eine verlorene Chance — aus Berlin das zu machen, was es werden kann, was es werden will: eine Metropole, die Feste bleibt für die Freiheit, die offen ist für die sich behauptenden Kulturen, die Hauptstadt der scharfen gesellschaftlichen Debatte.

Berlin könnte der Ort werden, der die Moderne ökologisch neu durchdenkt, der die Gräben zwischen Ost und West zuschüttet, der die Brüche produktiv umarbeitet zu einem Modell, das seine Attraktivität bezieht aus den Antworten, die sich Politik und Bürgerschaft wechselseitig geben, um sich der Utopie einer herrschaftsfreien zivilen Gesellschaft anzunähern, einer Gesellschaft, die die Demokratie von ihren Institutionen hineinholt in das Leben. So wird unser deutsches ein europäisches Land, weil es sich der Zukunft wirklich zuwendet, weil es von Berlin aus als Pfeiler die von Westen gebaute Brücke trägt nach Osten.

Die Mitte liegt ostwärts. Berlin wird helfen, den Osten nach Westen zu rücken. Damit in der Begegnung Neues entsteht, weil wir erkennen, wir sind alle Kinder der einen Welt. Wir haben uns nur lange aus den Augen verloren. Dort, wo die Schmerzen des Zusammenwachsens zu sehen sind, zu hören sind, zu riechen sind — sollte dort nicht der Platz der Vertretung des Volkes sein?

Wer vom Reichstag zu Fuß geht, am Brandenburger Tor vorbei, betritt märkischen Sand. Da stand die Mauer, suchte Alfred Döblin nach Spuren vom Glück in der Verzweiflung der Verachteten, vergrub sich Hitler, schrien die Soldaten der Roten Armee und der Wehrmacht nach ihrer Mutter. Hier blicken wir auf die Wüste, die wir uns hinterlassen haben. Sie ruft nach neuem Leben. Dort wird es gebraucht, in Berlin, das Parlament, um ein besseres, ein europäisches Deutschland mitzubauen. Gert Weisskirchen