»So geht einer nach dem anderen«

■ »Stalingrad — Briefe aus dem Kessel« im Künstlerhaus Bethanien

Fast alle Ausstellungen, Fernsehfilme, Bücher und Radiosendungen zum Pflichtgedenkdatum versuchen derzeit, noch irgendwie das Schreckliche mit dem Schönen zu verbinden, die Moral über die Neugier mobil zu machen: Man könne, so wird einem versprochen, zum ersten Mal noch nie Gezeigtes sehen/hören/lesen; Material also, das erst jetzt, nach Kalterkriegsende, zur Verfügung steht. Mit den Briefen aus Stalingrad nun, die jetzt im Bethanien Künstlerhaus zu lesen sind, verhält es sich um einiges verzwickter. Ein Bericht von Peter Blie.

Scheinbar rennt die Ausstellung alleroffenste Türen ein. Denn schon 1943 (!) war eine öffentliche Präsentation von Feldpostbriefen deutscher Stalingrad-Soldaten geplant. Das »Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda« wollte damit die Stimmung an der Heimatfront, den Glauben an den Endsieg mobilisieren. Das vom Ministerium eingesammelte persönliche Schriftgut gab allerdings so wenig an geplanter »Nibelungentreue« her, daß man die Absicht fallenließ.

Doch mit dem verlorenen Vernichtungskrieg war das Bedürfnis nach der »Opferbereitschaft der Helden von Stalingrad« und ihrem »heldenmütigen« Kampf (Propagandaministerium) selbstverständlich nicht verschwunden. Im Gegenteil. Da nun aber der Inhalt der Briefe sich immer noch genausowenig für ein Hohelied von »Opfergang« eignete, mußte er eben — wahrscheinlich ganz im Sinne Goebbels — neu erfunden werden. Und das geschah dann im Zuge der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung, die sich bekanntlich unter dem Motto »Besser machen« u.a. auch der Frage widmete: Wie hätte man Stalingrad anders machen können? 1950 also erschien das um- bzw. neugeschriebene Briefmaterial als Letzte Briefe aus Stalingrad im Verlag »Die Quadriga«. 1954 verlegte Bertelsmann diese Fälschungen unter demselben Titel als authentische Frontbefindlichkeit erneut, und zwar ausdrücklich unter Hinweis auf die geplante NS-Broschüre. Dieses Buch wurde nicht nur sehr viel gelesen, sondern auch in wissenschaftlichen Publikationen zitiert, ins Russische übersetzt, und schließlich diente es als Matrix, mit der die Trivial-Literatur zur Gefühlswiedergutmachung in Produktion ging. So erlebte das bertelsmannverbriefte Appassionata-Klavierspiel eines Wehrmachtssoldaten in der Nähe des Stalingrader Roten Platzes, das angeblich zur zeitweiligen Einstellung der Kampfhandlungen führte, seine Fake-Wiederkehr 2. Grades im Landser-Roman Hunde, wollt ihr ewig leben (1958) von Fritz Wöss.

So weit die Geschichte der Fälschung. Warum sie opportun, um nicht zu sagen, dringend gebeten schien, verdeutlichen die originalen Briefe aus Stalingrad: In ihnen steht nichts drin, bzw. kaum etwas über den Krieg, schon gar nichts Mann- oder Sieghaftes:

S. Josef Sygkowski

677b/n01289

Rußland, den 16/1.43

Liebe Eltern

Heute möchte ich euch einen Brief schreiben. Bin noch gesund und munter. Dassselbe hoffe ich auch von euch. Hier ist es noch sehr kalt. Es liegt noch viel Schnee hier. Ich glaube ihr denkt euch der schreibt ja immer dasselbe. Ich weiß auch nichts anderes zu schreiben.

Die wissen alle nicht was sie schreiben sollen. Ich habe noch einen Wunsch. Schicke mir doch bitte eine Pfeife meine ist gebrochen ohne Pfeife kann man hier nichts anfangen. Und bitte bald Schreibpapier sonst muß ich aufhören zu schreiben.

Es grüßt Euch Euer Sohn Josef

Klagen über das bitterlich kalte Wetter, über fehlende Post aus der Heimat, besonders über das Ausbleiben der gierig ersehnten Päckchen; detaillierte Schilderungen der schmalen Ernährung, Essenphantasien; der Hinweis auf die eigene verlauste Verwahrlosung, die sich beim Verzehr von Pferdegulasch vor sich selber ekelt; beißendes Heimweh — das sind die Leidensstationen der Eingeschlossenen. Sie warten darauf, bald aus ihrer Lage »herausgehauen« zu werden, sie hoffen auf den verdienten, längst überfälligen Urlaub; und sie sind gewiß, daß das Leben »danach« genauso weiterlaufen wird wie vorher; und damit meinen sie ihr privates Leben, das sich ihnen längst zu einem sentimentalen Himmel verklärt hat. Immer wieder wird Lale Andersen (sie ist auch in der Ausstellung zu hören) zitiert: »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, nach jedem Dezember folgt wieder ein Mai.« Überhaupt ist auffällig, wie durchweg floskelhaft ungelenk die Briefe klingen. Schreiben war die einzige Verbindung nach draußen. Und so griffen auch Männer nach diesem Lebensfaden, die gänzlich schreibungewohnt waren.

Im Mythos von der Unbesiegbarkeit der deutschen Wehrmacht befangen und durch die sowjetischen Armeen von jeglicher Außenschau abgeschnitten, ist den Soldaten der Blick auf ihre tatsächliche Situation doppelt verstellt. Anfangs ist es die Gewißheit, später die Hoffnung auf einen siegreichen Ausgang, die ein mögliches Unrechtsbewußtsein blockiert und eine Reflexion darüber verhindert, warum man überhaupt in diese Lage gekommen ist; gegen wen und für was man eigentlich diesen Krieg führt. In Wetter, Hunger und Feuer zur »Schicksalsgemeinschaft« zusammenkommandiert, wird bewußt erlitten, was erlitten sein will. »Überspitzt gesagt: zahlreiche Briefe könnten auch von einer Nordpolexpedition stammen«, resümiert Jens Ebert, einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter, dann auch im Ausstellungskatalog.

Und damit ist der Kessel von Stalingrad die verkleinerte Reproduktion des gesellschaftlichen Selbstbewußtseins der Menschen im nationalsozialistischen Deutschland. Statt die Verhältnisse in Frage zustellen, lebt man Kadavergehorsam, statt einen subjektiven Willen zu setzen, geht der Einzelne im »Haufen« oder in der Volksgemeinschaft auf und schließlich in ihr unter. Dergestalt von einer möglichen Eigenverantwortung befreit, entmündigen sich die Akteure zu Objekten und können post mortem zu Opfern (es fragt sich allerdings, für welche gute Sache) stilisiert werden. Erst sind es die »Helden von Stalingrad«, die sich für den Aufbau einer Verteidigungslinie im besonderen und für das Vaterland im allgemeinen in den heiligen Schlachtring haben führen lassen. Später ist es dann ein ganzes Volk von Ver-Führten und Betrogenen, das den »Zusammenbruch« erleidet. Gerade in der naiven Plattheit, in der herzzerreißenden Schlichtheit der Frontbriefe dokumentiert sich die bei Stalingrad eingeleitete Wende: Aus handelnden Herrenmenschen werden stumme Opfer, denen die Transzendenz abhanden gekommen ist. (»Über das vorübergegangene wollen wir schweigen denn es war grausam. Vor paar Tagen fiel mein bester Kamerad ‘Willi‚... Ja, ja und so geht einer nach dem anderen, mein bestes Frauchen«). So haben sich schließlich, in einer zweiten Volte, die wahren Briefe sich für eine Endrechtfertigung dann doch als tauglicher erwiesen als die gefälschten.

Sehr anders dagegen die Briefe der sowjetischen Stalingrad-Soldaten: 11. Oktober 1942... wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, daß ich mit euch spreche. Gerade gibt es einen Luftangriff. Von der Luftbewegung bleibt einem der Atem weg, der Gegner schießt mit Leuchtspurmunition, wirft Raketen wie auf einem Maskenball. Von Zeit zu Zeit gehe ich aus dem Unterstand raus, um dieses Schauspiel zu sehen... Es kränkt mich, daß wir zuviel des russischen Landes aufgegeben haben, aber trotzdem wird der Feind vernichtet. Daran besteht kein Zweifel. Das gibt Kraft und Gewißheit für die Zukunft. Oberst I.F. Batjuk an Frau und Kinder.

Diese Briefe sind viel konkreter, die Soldaten benennen technische Details, beschreiben Kampfaktionen, vor allem ordnen sie ihr Tun, einschließlich den eigenen Tod, in einen sinngebenden Gesamtzusammenhang ein. Nicht, daß hier einem kriegerischen Hurra-Patriotismus das Wort geredet werden soll. Nur belegen die Dokumente, wie viel tragfähiger das Einverständnis der »russischen Untermenschen« mit ihrem Auftrag war: Kampf gegen die Faschisten! Die Nazi-Ideologie der natürlichen Überlegenheit dagegen zerfiel in nichts. Und das ist womöglich auch eine Wahrheit der deutschen Briefe.

Daß die Briefe der gegnerischen Fronten überhaupt und jetzt sogar gemeinsam gezeigt werden, ist zweifellos das Besondere dieser Ausstellung im Kreuzberger Bethanien-Haus. Denn jenseits der Stalingrad-Fälschungen gibt es in der Bundesrepublik kein derartiges archiviertes Material. Jens Ebert entdeckte die in Kisten verpackten Briefe 1987 zufällig bei einem Besuch im Archiv des Museums »Stalingrader Schlacht« in Wolgograd (so heißt die Stalin-Stadt heute).

Aus der Entdeckung wurde eine vom DGB-Berlin-Brandenburg und dem Gebietsrat der Wolgograder Gewerkschaften getragene deutsch-sowjetische Gemeinschaftsausstellung; vorbereitet wurde sie von Inse Eschenbach und Susanne zur Nieden. Das Beweismaterial ist thematisch geordnet, auszugsweise auf Tafeln gedruckt nachzulesen, in ausliegenden Mappen einzusehen, von Großfotos begleitet und in den Kontext der deutschen Vernichtungskriegsstrategie eingebettet. Sie bildet so eine hervorragende Ergänzung zur Ausstellung in der Topographie des Terrors (siehe Besprechung auf den Sonderseiten). Wird dort primär die Schrift als ordnendes Terrorinstrument einer Logistik vorgeführt, deren Ziel die systematische Vernichtung der russischen Bevölkerung war, so zeigt die Stalingrad-Ausstellung quasi den subjektiven Faktor: die Leere ihrer Vollzugsorgane; der Kälte der Logistik entspricht eine »Wärme« von leerlaufenden Gefühlen mit (selbst)enteignetem Gegenstand.

Anfechtbar an der Ausstellung ist das Mißtrauen ihrer Konzeptionistinnen gegenüber der Tragfähigkeit der leeren Worte: Wo man lesen, und nichts als lesen sollte, werden auch gefühlsträchtige Habseligkeiten, ein Videofilm (die Schlacht um Stalingrad aus sowjetischer Dokumentaristenperspektive) und Kopfhörer (die schlecht gesprochene Grabrede für einen gefallenen deutschen Soldaten) gereicht. Dazu als aktuelle Zugabe noch Fotos von Helga Paris, die vermutlich die monumentale Erstarrung der Gedenkstätten in Wolgograd mit Porträts dort lebender und arbeitender Menschen konfrontieren wollen, sich aber eher selbst inszenieren.

Unbestreitbar empfehlenswert ist der Katalog der zum Verständnis dessen, was der Mythos Stalingrad für Deutschland und die UdSSR bedeutet(e), mehr als behilflich ist. Unbestreitbar kompromittierend aber war die form- und kulturlose Eröffnung durch einen Dieter-Ruckhaberle- Menschen. Daß man mit dieser Haltung senatsgeförderte Avantgardekunst vorstellen kann, mögen Vernissage-Besucher inzwischen von ihm gelernt haben. Daß er aber derart dumpf diese besondere Ausstellung vorstellte, zu der eine große sowjetische Delegation angereist ist, hat vielleicht Eberhard Diepgen verdient, den er an diesem Abend vertrat, aber nicht das Ereignis.

Die Ausstellung ist bis zum 4. August Di.-So. von 11-18 Uhr im Bethanien, Berlin 36, Mariannenplatz 2, kostenfrei zu besichtigen. Siehe auch Begleitprogramm im Veranstaltungskalender.