HÄUPTLING DER FALSCHEN INDIANER

■ Am 29. Juni haben die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg zum 40sten Mal Premiere. Fast fünf Millionen Menschen haben in den letzten 39 Jahren den Freilichtabenteuern der theatralischen Helden Karl Mays...

Am 29. Juni haben die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg zum 40sten Mal Premiere.

Fast fünf Millionen Menschen haben in den letzten 39 Jahren den Freilichtabenteuern der theatralischen Helden Karl Mays zugesehen. Mit dem schönen Pierre Brice kam 1988

der große Durchbruch.

VONKARLANTON&VORORTH

Sie scheinen nicht mehr bei Sinnen zu sein. 8000 Menschen weinen, werfen Blumen, heben Transparente hoch, stimmen in Sprechchöre ein und überrennen schließlich die Ordner. Die Menge flutet auf die Bühne, der Umjubelte kann gerade noch auf seinem Pferd hinter die Kulissen flüchten. So einfach kommt ihnen dieser Winnetou, der an diesem Abend eigentlich zum letzten Mal durch das Halbrund des Segeberger Kalkberg-Stadions hatte galoppiern wollen, nicht davon. „Wir wollen ohne dich nicht leben, Pierre“, steht auf dem Spruchband — und zwei Monate später entscheidet Pierre Brice, daß er sich nicht am kollektiven Selbstmord seiner Fangemeinde schuldig machen will. Auch 1991 wird der mittlerweile 62jährige als Edelindianer in die Bad Segeberger Arena einreiten.

120 Männer des Reichsarbeiterdienstes, Abteilung 9/73, Arbeitslager Schafhaus hatten dieses Stadion 1934 bis 1937 angelegt. In dem stillgelegten Kalkbruch mit seinen silbergrauen, steil abfallenden Felswänden sollte der Thingplatz der Nordmark, des heutigen Schleswig- Holstein entstehen. 15.000 Kubikmeter Boden wurden dazu umgesetzt, 3.000 Kubikmeter Kalkstein gesprengt und 2.000 Meter Treppenstufen aus schlesischem Granit eingebaut.

Am 10. Oktober 1937 weihte Goebbbels das Amphitheater samt seiner Bühne voller Nazi-Kitsch ein: Freitreppen, steinerne Sockel, hohe schmale Säulen, ein Werk „so Monumental .. so einfach“, in dem sich „nichts Gekünsteltes und Unnatürliches“ findet, wie Stadtbaumeister Schmidt sich begeisterte. Ein Werk, das nicht von langer Dauer war: Der arisch-nordische Altar wurde 1945 zerstört, das Theater blieb erhalten und sollte wieder genutzt werden. Boxkämpfe wurden veranstaltet, an eine „Nibelungen“-Aufführung dachte man — und an Karl May.

Im sächsischen Rathen hatte es zwischen 1938 und 1941 Stücke nach Karl May gegeben, 200.000 Zuschauer waren damals zu der „verwitterten Felswand unter der romantisch-markanten Felskuppe der Bastei“ gepilgert. So eine Winnetou- Aufführung, beschlossen die Bad Segeberger Stadtverordneten 1952, sollte der Lübecker Oberspielleiter Ludwig auch am Kalkberg ausrichten.

Viel durfte das Unternehmen gerade sieben Jahre nach dem Krieg allerdings nicht kosten, Privatinitiative war verlangt. Also gestalteten Kunstlehrer das Programmheft, Zelte und Totempfähle wurden im städtischen Bauhof gebastelt, eine „Kleiderfabrik“ entstand im Verwaltungsgebäude des Krankenhauses. Um die Werbung kümmerten sich Mitarbeiter der städtischen Verwaltung und neben den in ganz Norddeutschland angeworbenen Profi- Schauspielern kamen Segeberger Frauen und Männer als Statisten auf die Bühne.

Premiere war am 16. August 1952, die Aufführung überzeugte: „Dieses Geschehen — man kann es auch Handlung nennen — stützt sich auch bei dem Schauspiel Winnetou auf einen geregelten Nachschub von ebenso dekorativ wie geräuschvoll Dahingemetzelten. Die Zahl der Mitwirkenden verringert sich bei sinkender Sonne zunehmend. Da liegen sie, malerisch angestrahlt, entseelten Leibes vor der großen Naturkulisse, rote Männer, weiße Männer, selbst die Damen werden nicht verschont — pausenlos reisen entleibte Seelen in die ewigen Jagdgründe ab.“

Nein, ein solcher Tritt in den heimatlichen Fettnapf wäre dem Kommentator der 'Segeberger Zeitung‘ 1952 nicht durchgegangen, den konnte er sich erst fünf Jahre später erlauben.

98.000 Zuschauer besuchten die 15 Aufführungen 1952, die ausgegebenen 73.000 Mark wurden eingespielt, ein großer Erfolg.

Nichts als edel, hilfreich und gut

Und der verdankte sich dem May, dem deutschen? Ausgerechnet dem stümperhaften Hochstapler, dem unglücklichen Menschen, dem Schreiber, dem vom „Sudelphantasten“ und „Gesinnungspazifisten“ bis zu „Hitlers Lieblingsschriftsteller“ so ziemlich jedes literarische, moralische und politische Etikett angeklebt wurde? Ausgerechnet seine Erzählungen ergreifen als Bühnenstück die Masse so? Wie das?

Die Felsen, das Feuer, Kostüme und Knaller und der Sternenhimmel überm Kalkbergstadion, ein ungewohntes Bild, das fesselt die Sinne, versteht sich. Ans Gemüt aber rührt erst die Sage von Mut und Treue und der Männerfreundschaft zwischen dem außergewöhnlichen Roten und diesem Kerl von einem deutschen Mannsbild, dem einzigartigen Shatterhand; nichts als edel, hilfreich, gut. Die wärmt die Herzen, um die es kalt ist in dieser neu gegründeten Bundesrepublik, wo es noch immer durch viele Löcher zieht. Ein verunsichertes Volk erinnert sich seiner frühen Lektüre. In Karl Mays Büchern ist kein Nebel, dort treten Gut und Böse als Held und Schurke auf, selbst der dümmste Leser weiß, wohin er gehört. Alle Zweifel beiseite: Karl May verdient es, das pädagogische „Prädikat Wertvoll“. Redakteur Hermann Ross kennt gar noch einen Zeugen: „Peter Rosegger, ein Dichter, dessen seelische Kräfte wir in seinen Büchern spüren, nannte Karl May einen ganz prächtigen Menschen, der in seine Erzählungen einen guten ethischen Kern, Vaterlandsliebe, Humanität und einen gesunden Nationalstolz legt.“

Vermittlung „höherer Werte“ garantiert. Die Karl-May-Spiele hatten ihren volkserzieherischen Auftrag gefunden.

Ein gelungener Einstand also, und es wurde weitergespielt, Jahr für Jahr, im Wechsel Hadschi Halef Omar, Der Schatz im Silbersee, In den Schluchten des Balkan, und immer mal wieder eine Geschichte mit Winnetou. Zwischen 60.000 und 100.000 Zuschauer kamen pro Jahr, in etwa ging der Betrieb plus minus Null auf. Auch das Fernsehen berichtete 20 Jahre lang vom Bad Segeberger Freilandtheater.

Ab 1960 machte sich die Literaturwissenschaft auf die Fährte von Karl May. Arno Schmidt erklärte 1963 in Sitara ohne Umschweife den Autor zum verkappten Schwulen und machte sich einen teuflischen Spaß daraus, dies durch akribische freudianische Werksexegese zu beweisen. Die Gemeinde heulte auf. Volksvergiftung, Blasphemie, Totenfrevel. Aber ein May übersteht auch das.

Konkurrenz durch die Model-men der Schwarzwald-Western

Bad Segeberg hatte andere Sorgen. Ganz neue Konkurrenz tauchte auf. 1962 kamen die Karl-May-Filme von Harald Reinl auf die Leinwand, anspruchslose, aber perfekt gemachte „Schwarzwald-Western“. Pierre Brice und Lex Barker, glattrasierte, wohlgebräunte Model-men besetzten die Figuren Winnetou und Old Shatterhand im Bewußtsein der Öffentlichkeit paßgenau — sofort und noch auf Jahrzehnte hinaus. Edelgesichter, die alle ihre Vorgänger in diesen Rollen — Hans Jürgen Stumpf, Gerhard Lippert, Günter Hoffmann und wie sie alle hießen — zu grotesken Fehlbesetzungen degradierten.

Wenn Old Shatterhand unter Martin Böttchers verwehten Schmachtfetzen über die karstige jugoslawische Hochebene galoppierte und seinem Blutsbruder in letzter Sekunde zu Hilfe kam — was waren neben diesem Frontalangriff auf die Gefühle schon die echten Pferdeäpfel realer Pferde in Bad Segeberg?

In Bad Segeberg gingen die durchschnittlichen Zuschauerzahlen zurück. Neue Intendanten wurden angeheuert, Schauspieler wie Chris Howland, Raimund Harmstorf und Claus Wilcke sollten Publikum anziehen. Show-Time am Kalkberg, die große Zeit der Kaskadeure. Spektakulär wurde sich in die Tiefe gestürzt, staubaufwirbelnd verfolgt, von Pferd zu Pferd munter geschlagen und gefochten. Der Bär war los und der Adler ging nieder, mal bot ein Regisseur zwei verschiedene Stücke pro Saison, mal führten 200 Kinder Winnetou auf.

Doch das ging ins Geld, immer bedenklicher wurden die roten Zahlen, und als die Stadt 1978 ein Defizit von 491.000 Mark zu decken hatte, wurde der Ruf, die Spiele einzustellen, unüberhörbar.

Um zu retten, was zu retten war, ging der Festspielbetrieb 1980 in die Hände einer eigens dafür gegründeten Kalkberg GmbH über. Und die verstand es, die Spiele als perfektes Stück Unterhaltungsindustrie wieder ins Gerede zu bringen. Auf Segeberger Karl-May-Botschafter traf man nun in Lincoln und Timmendorf, sie rauchten auf den Tourismusbörsen Friedenspfeifen und ernannten Ehrenhäuptlinge, Waigl und Momper zuletzt. Jeder hunderttausendste Besucher erhielt einen lebenden Gaul oder eine Reise zur Steubenparade nach New York. Kurz: Die rührige, gelegentlich mit einem Schuß Selbstironie garnierte Öffentlichkeitsarbeit griff. 1983 wurde wieder Gewinn gemacht. Und dann waren da noch die Indianer.

Indianische Musik vom Band, Pfeifen und Medizinbeutel

„Ethnographische Elemente“ hatten die Karl-May-Spieler von Anfang an bemüht, hatten versucht, die Abenteuergeschichten mit folkloristischen Farbtupfern anzureichern.

Seilermeister Jürgens, der sein Geschäft schon früh umgewandelt hatte zu „Segeberger Karl-May- Werkstätten“, von denen aus er die Welt mit Indianer-Souvenirs belieferte, baute seine Pfeifen, Ketten und Medizinbeutel nach den Illustrationen von Oliver La Farges American Indian. Indianische Musik vom Band untermalte die Aufführungen. Ein Hauch von Authentizität sollte historische Glaubwürdigkeit signalisieren.

Im Programmheft von 1961 kamen Indianer erstmals nicht nur als literarisches Personal vor. Unvermutet war da von tüchtigen Arbeitern in amerikanischen Reservaten die Rede, von anerkannten Bürgern, die Schulen besuchten, studierten und es zu etwas bringen konnten. Und sogar ein echter Indianer, Silkirdis Nichols, ehemaliger Soldat der US- Army, Cherokese von Geburt, tanzte ab 1965 am Kalkberg.

Aber derartige Garnierungen reichten zu Beginn der achtziger Jahre nicht mehr aus. Sollten die Spiele nicht endgültig der Lächerlichkeit anheimfallen, brauchte der Mythos einen neuen Boden: Realität, oder das, was man dafür hielt bzw. nehmen wollte.

„Indianistik-Lehrgänge“, die Crow-Indianer Gary Johnson von 1976 bis 1978 abgehalten hatte, hatten gezeigt, daß für authentische Folklore mit gegenwartsbezogenen Einsprengseln sehr wohl Interesse vorhanden war.

Also wurde am Kalkberg ein „Apachenreservat“ mit Tipis und Blockhäusern hochgezogen, in den Programmheften war von der „Tragik des Roten Mannes“, dann vom „elenden Dasein in den Reservaten“, schließlich gar von der Ausrottung und von aktueller Vertreibung von Navajos in Nordamerika zu lesen.

Mit dem Stamm der Winnebago- Indianer schlossen die Bad Segeberger 1986 ein „Freundschaftsabkommen“, Mandan-Indianer traten im selben Jahr im Vorprogramm von Halbblut als Tänzer auf.

1987 wurde ein neu erbautes „Nebraska-Haus“ eröffnet, Bibliothek, Ausstellung indianischer Kunst und Touristeninformationszentrum