Der Tenor, der aus der Kälte kam

Die Berliner Kammeroper feiert im Hebbel-Theater mit Haydns „Armida“ ihr zehnjähriges Bestehen  ■ Von Stephan Reimertz

Haydn als Opernkomponist? Ja, durchaus. Jegliche Nasenheberei ist zu unterlassen. 24 Opern aller Arten, und das sind keine illegitimen Kinder von „Papa“. Die Piccola Seria Armida hat er im allerbesten Mannesalter von 51 Jahren geschrieben, das sein Schüler Amadé nicht mehr erleben durfte. Die heuer zehn Jahre alte Berliner Kammeroper besitzt die beiden Kräuter, mit denen man Armida, die Zauberin aus dem elften Jahrhundert, erwecken könnte: Liebe und Professionalität. Das privat gegründete Ensemble gedeiht nun schon seit 1981 auf dem Feld „Intelligente Dramaturgie“, das von der staatlichen Konkurrenz so großzügig freigelassen wird. Fast allein hat das hochtrainierte Team die Opernkultur im Berliner Westen zu bestreiten.

Nun also Haydn im Mozartjahr. Das ist gescheit. Das begrüßen die Schlauen als Böllerschuß gegen die Mozartkugel, und für einen Musiker ist es sowieso völlig plausibel. Eh ich mich auf eine heikle Semplice oder Giardiniera einlassen, eine kapriziös-anspruchsvolle Zaide, die man alle erst mit äußerstem Raffinemet in Stimmung bringen muß, erinnere ich mich doch lieber der alten Armida; handfest und dauerhaft-robuste Frühklassik, die immer noch gut genug ist. Das läuft musikalisch wie von selbst, und die Berliner Kammersänger können sich voll auf die Szene konzentrieren. Brynmor Llewelyn Jones am Pult bedient problemlos Haydns musikalische Viergangschaltung. Das „Dramma eroico“, komponiert für die kleinen Verhältnisse bei den Esterhazys, ist so heroisch wie ein Hase und hoppelt gekonnt durch die wohltemperierte Welt.

Während man an der Deutschen Oper in der Bismarckstraße gerade wieder beweisen wollte, daß Mozart ein Gipskopf sei, präsentierte die Berliner Kammeroper den totgesagten Haydn höchst lebendig. Die Musik ist allen Ernstes hübsch. Dasselbe kann man auch von Evelin Garbrecht sagen, deren Zauberin Armida in einem zugleich starken und weichen Sopran spricht. Iphigeniös als Zauberin, mozärtlich in der Liebe, bedrohlich mit der Hölle Rache im Herzen, beherrscht sie alle weiblichen Tricks, die die Operngeschichte zur Verfügung stellt. Ihre Gespielin Zelmira nimmt in Mieko Kanesugis elfenbeinreiner Stimme Gestalt an, plastisch auch im dreigestrichenen Bereich. Die Story ist übrigens eine Bearbeitung des „Armida und Ronaldo“-Stoffs aus dem Befreiten Jerusalem des Tasso und muß also nicht nacherzählt werden. Oder? Die in der Gerusalemme liberata mit glühender Frische erzählte Geschichte der Zauberin Armida, die zuerst der Liebe zu dem Kreuzritter Rinaldo und infolgedessen dann der Inquisition verfällt, wird von den ausnahmslos erstrangigen Musikdarstellern der Berliner Kammeroper nirgends chargiert oder verramscht.

Haydn schon war unentschieden, ob die Welt der Zauberin oder die der Christen-Ritter die bessere sei; in der moderaten, unterspielten, aber bis ins kleinste dramaturgisch ausgeloteten und ausgefüllten Interpretation der Berliner Kammeroper erübrigt sich diese Frage vollends. Edward Randall, ein dezenter Tenorist, schwankt bedenklich zwischen Pflicht und Liebe, aber er sagt immer zugleich: Wir spielen hier nur.

Dieses angemessene Konzept bringt dann der Tenor-Kreuzritter Andreas Schmidt zur höchsten Wirkung. Er markiert den Ubaldo als christlich-mephistophelischen Grafen Dracula, seine schnarrende und doch noch singende Stimme spielt kongenial mit. Die Auftrittsarie zeigt einen Zauberer von hypnotischer Bühnenwirkung, einen vom Stummfilm eingeschwärzten Mimen aus dem Reich des Bösen; da sind Murnau und Haarmann, jesuitische Dialektik und souveräne Dramaturgie, Dr.M. und Freischütz: dunkelstes Deutschland.

Das Bühnenbild: einfachste Mittel, größte Wirkung. Schräg gehängte Mäander als Labyrinth der Liebe und der Geschichte. Die Kostüme: ironisch- bedrohliche Skizzen mythischen Mittelalters. Die Gesamtwirkung: stimmig, überzeugend, fabelhaft. Ein Bravo der Berliner Kammeroper zu dieser würdigen Dezenarfeier. Jetzt aber müssen sich die Künstler ein neues Ziel setzen: etwas, das sie nicht automatisch können. Wir warten ungeduldig.

Joseph Haydn: Armida, Dramma erioco in drei Akten. Berliner Kammeroper im Hebbel-Theater. Regie: Henry Akina.