: SHORT STORIES FROM AMERICA
■ Gönne Sie sich eine Parade!
All die besorgten Menschen, die dagegen protestierten, daß wir am Golf etwa Blut für Öl vergießen würden, sind einem schrecklichen Irrtum erlegen. Die USA sind natürlich nicht wegen des Öls in den Krieg gezogen — was für eine furchtbare Vorstellung. Wir haben doch genug, um die heimische Nachfrage zu befriedigen, und wenn in Deutschland oder Japan die Wirtschaft zusammenbrechen sollte, weil denen der Ölhahn zugedreht wird, dann fallen nur ein paar lästige Konkurrenten aus; eine für uns doch eher erfreuliche Entwicklung. O nein, meine lieben verwirrten, gesamtdenkerischen Freunde, die USA sind keineswegs wegen des Erdöls in den Krieg gezogen, sondern wegen der Parade.
Mir ist unbegreiflich, wie man auch nur auf die Idee kommen kann, die Amerikaner würden ihr Leben ausgerechnet wegen der internationalen Politik aufs Spiel setzen. Allein um als Helden zu brillieren, setzen wir unser Leben aufs Spiel, wie schon ein flüchtiger Blick auf unsere Geschichte und unsere Filme beweist. Es geht um Heldentum, nicht mehr und nicht weniger (deshalb lieben wir auch Euern Arnold Schwarzenegger so), und ohne Parade gibt es nun einmal keine Helden. Paraden sind dermaßen gefragt, daß die Hauptstadt Washington, als New York eine für den 10. Juni ankündigte, aus lauter Eifersucht ihre eigene auf den 8. Juni legte. Alle Zeitungen im Land verglichen die beiden Paraden: Welche Berühmtheiten für welche Parade gewonnen wurden, wie lang sie waren, wieviele Teilnehmer sie hatten, welche Musik gespielt wurde. Und was man anziehen mußte: in New York war es schwarzes Spandex, in Washington khakifarbene Bundfaltenhosen, die an den Hüften ganz schlimm aussehen.
Die New Yorker Parade brachte beinah fünf Millionen Menschen auf die Beine; schließlich wußten sie genau, daß einem Paraden den wesentlichen Teil heldischen Wesens verschaffen: süßes Vergessen. Seit dem Kriegsende im Februar nagen wieder kleine Ärgernisse wie die Rezession am amerikanischen Geist. Paraden sorgen für Abhilfe, sorgen für Vergessen. Wenn es Sie aufregt, weil beispielsweise ein Börsenmarkt-Spezialist von Merrill Lynch sich folgendermaßen über die Wirtschaft äußert: „Es sieht bisher nach einer lustlosen Erholung aus — wenn es überhaupt dazu kommt“, schalten Sie einfach um zur Parade. Sollten Sie Ihre Probleme damit haben, daß die reichsten zweieinhalb Millionen Amerikaner ebenso viel verdienen wie die ärmsten hundert Millionen; daß in den USA mehr Menschen unter der Armutsgrenze existieren müssen als insgesamt Menschen in Ostdeutschland und Ungarn leben; daß in den USA der Anteil von Menschen ohne Krankenversicherung höher ist als Mittelamerika insgesamt Einwohner hat — sind Sie reif für die Paraden-Therapie.
Früher habe ich als Stimulans die Einkaufs- Therapie empfohlen, weil sie billiger ist als Designerdrogen und außerdem länger vorhält. Aber nach der jüngsten wirtschaftlichen Entwicklung (siehe oben) scheint mir der Hinweis angebracht, daß Paraden kostenlos sind (wenn das nicht gar zu degoutant wirkt).
Sollten Sie zu den Leuten gehören, die einen Asthmaanfall kriegen, wenn sie von der Umweltschutzbehörde hören, daß nach dreieinhalbmonatigen Aufräumarbeiten schon 136 der 600 brennenden Ölquellen in Kuwait gelöscht sind und nur mehr, welche Freude, 464 weitere warten, gönnen Sie sich eine Parade. Wenn Sie sich Sorgen um die Zukunft der USA machen, weil Bush versucht, die Bundesdarlehen für Collegestudenten um zwölf Prozent zu kürzen — mit dem Argument, daß ihre Eltern schließlich mehr als 10.000 Dollar im Jahr verdienen —, sind Paraden genau das richtige Rezept. Oder wenn Sie das Mitleid mit den Kindern erfaßt, deren Lehrern von der Stadt New York der vorzeitige Ruhestand nahelegt wird und ihre Stellen wegen Finanzmangel nicht neu besetzt werden, genehmigen Sie sich einfach eine Parade.
Diese Geschichte mit den Schulen ist tatsächlich einigermaßen verwirrend. Als die New Yorker Grundschüler sich bei den landesweiten Prüfungen in Rechnen deutlich verbessert hatten, war die 'New York Times‘ gleich so stolz, daß sie es auf ihrer Titelseite meldete. Die verbesserten Ergebnisse wurden den Fortbildungsmaßnahmen für Lehrer zugeschrieben, die die Stadt vor kurzem eingeleitet hat. Jetzt muß die Stadt nicht nur die Fortbildung kürzen, sondern gleich auch noch die Lehrer. Meine Gier auf Konfetti wird langsam maßlos.
Sollte Sie ein heftiger Schmerz durchzucken, weil die Unfallkliniken schließen müssen — in New York bis zum Juli allein die Hälfte —, weil das Geld fehlt, besuchen Sie eine Parade. Sollte Ihnen mulmig werden wie bei der Schlacht um Stalingrad, weil der Oberste Gerichtshof darauf erkennt, daß Gefangene ihren Wärtern „bewußte Gleichgültigkeit“ nachweisen müssen, bevor sich irgendetwas an den Zuständen in den Gefängnissen ändern kann, ist die Paraden-Therapie genau das Richtige für Sie. Als das Gericht verkündete, Überfüllung, schlechte hygienische Verhältnisse und die unvermeidliche Gewalttätigkeit sollten die Gefängnisverwaltung nicht groß kümmern müssen, weil ihr schließlich nichts anzulasten sei, was sie nicht gewollt hat, bin ich zur ersten Parade marschiert, die aufzutreiben war: die der „Hoboken Veterans of Foreign Wars“.
Vermutlich muß einen die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Gefängnisse nicht mehr überraschen als die gestiegene Zahl von New Yorker Familien, die in Notunterkünften hausen (4.566; vor einem Jahr waren es erst 3.364), obwohl es die Stadt billiger käme, wenn sie leerstehende Wohnungen neu beziehen ließe und obdachlose Familien dauerhaft unterbrächte. Der Schluckauf dabei war nicht größer, als ich hörte, daß Louisiana die strengste Regelung gegen die Abtreibung im ganzen Land eingeführt hat, wo Louisiana ohnehin zu den ärmsten Bundesstaaten gehört und nur wenig für Mutterschaftsschutz und Kinderbetreuung unternimmt. Der Kongreßabgeordnete Barney Frank sieht bei dieser Art Gesetz den Glauben am Werk, „daß das Leben bei der Empfängnis beginnt und mit der Geburt endet“. Das neue Gesetz verbietet eine Abtreibung selbst dann, wenn die Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet; Abtreibung ist auch nach einer Vergewaltigung nur erlaubt, wenn die Vergewaltigung innerhalb von sieben Tagen der Polizei gemeldet wird und wenn die Frau innerhalb von fünf Tagen nach der Vergewaltigung daraufhin untersucht worden ist, ob sie nicht schon vorher schwanger war. Sollte Sie bei all diesen Beschlüssen über Gefängnisse, Obdachlose und Abtreibungen der Gedanke anwandeln, daß Amerika nicht unbedingt das sanftere, mildere Land wird, das Sie sich erwartet haben, werden sich Ihre Zweifel gewiß bei einer herzerwärmenden Parade zerstreuen lassen.
Schließlich stand in diesem Monat in der 'New York Times‘ auch zu lesen, daß während des Golfkriegs 13 Scud-Raketen über Tel Aviv niedergingen, ohne daß Patriot-Antiraketen eingesetzt wurden. Todesfälle gab es keine zu verzeichnen, 115 Menschen wurden verletzt, 2.698 Wohnungen beschädigt. Als dann die Patriot- Raketen eingesetzt wurden, um elf Scuds abzufangen, wurde ein Mensch getötet, 168 wurden verwundet und 7.778 Wohnungen beschädigt. Sollte Ihnen blümerant werden bei derartigen Leistungen, rücken Sie sofort vor zu einer Parade. Da ist wenigstens garantiert, daß man derlei Kleinigkeiten vergißt.
Paraden könnten auch in Deutschland Wunder tun. Schon probiert? Scharen junger Menschen, die in feinsäuberlichen Reihen die Hauptstraße hinaufziehen, während ihnen am Straßenrand Tausende zujubeln. Das erfrischt vielleicht! Sie müßten nicht dauernd an die Bandenkriege zwischen Neonazis und Besitzern von Sex-Shops in Dresden denken. Es könnte Sie ablenken von der peinlichen Wiedereröffnung des Falles Rudolf Heß. Ich weiß nicht, was geschmackloser ist, daß Heß ganz geheimdienstmäßig versuchte, Großbritannien in den Zweiten Weltkrieg und auf die Seite der Nazis zu ziehen, oder daß er homosexuell war. Doch eine gute Parade könnte Sie von beidem befreien. Sie verschaffte Ihnen auch Erleichterung in der nervigen Entscheidung, ob nun Berlin oder Bonn Regierungssitz des vereinigten Deutschland sein soll. Das bringt mich übrigens auf einen Punkt, der bisher zu wenig beachtet worden ist. Wenn Berlin wie Washington der Regierungssitz werden sollte, müßten die Berliner an den Paraden in jenen khakifarbenen Bundfaltenhosen teilnehmen, die an den Hüften ganz schlimm aussehen.
Übersetzung:Willi Winkler
GÖNNENSIESICHEINEPARADE!
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