„Brasilien kann die Schulden nicht zurückzahlen“

■ Paulo Singer, Mitgründer der brasilianischen Linkspartei PT und Budget-Planungschef von Sao Paulo, zu Inflation, Schulden und Politik

Singers jüdische Familie floh aus Österreich, als er acht Jahre alt war. In Brasilien wurde er zu einem der bekanntesten linken Wirtschaftstheoretiker Lateinamerikas. Seit die von ihm mitgegründete Partido de Trabalhadores (PT) 1989 die Kommunalwahlen von Sao Paulo gewann, ist er Chef der Budget-Planungsbehörde.

taz: Wie kann eigentlich der Planungsdezernent einer 10-Millionen-Einwohner-Metropole seinen Jahreshaushalt planen, wenn die Preise jeden Monat um 10 oder 20 Prozent klettern? Ist das eigentlich möglich?

Singer: Es muß möglich sein. Die Pläne werden eben alle zwei oder drei Monate revidiert. Das machen die Computer. Aber es gibt natürlich große politische Spannungen — es schwanken ja nicht nur die nominellen Preise, sondern auch die realen Werte — das heißt unsere Möglichkeiten, bestimmte Vorhaben weiterzuführen.

Als der brasilianische Präsident Collor de Mello im März 1990 sein Amt antrat, lag die Inflationsrate bei 80 Prozent — monatlich, wohlgemerkt. Heute liegt sie monatlich zwischen sechs und acht Prozent. Kann man sagen, die Anti-Inflationspolitik war erfolgreich?

Zunächst wurden Fehler gemacht: Die Liquidität wurde so stark abgeschöpft, daß viele Unternehmen nicht einmal mehr die Löhne bezahlen konnten. In den ersten Monaten war daher die Rezession so stark, daß es eine reale Deflation gab. Als dann die Preise wieder freigegeben wurden, kam die Inflation zurück, jeden Monat mehr. Im Dezember lag sie wieder über 20 Prozent. Die ganzen Opfer, Arbeitslosigkeit, das Einfrieren der Sparguthaben, hatten nichts genützt. Im Januar gab es eine Kehrtwende: Die Preise wurden wieder eingefroren und jetzt nur behutsam freigegeben. Für brasilianische Verhältnisse ist die heutige Inflationsrate ein Erfolg.

Dafür ist im ersten Vierteljahr 1991 das Bruttoinlandsprodukt um 7,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen. Ökonomen haben vor einer „Entindustrialisierung“ Brasiliens gewarnt.

Ja, obwohl die Industriebeschäftigung seit Mai wieder zunimmt, sind wir aus der Rezession, der stärksten in der jüngeren Geschichte Brasiliens, nicht heraus. Das Team des neuen Wirtschaftsministers Moreira verspricht gar nichts, ist ganz das Gegenteil des vorigen: sehr pragmatisch statt ideologisch-neoliberal. Ich will aber nicht zu optimistisch sein: Die jetzige Tendenz müßte sich mindestens ein ganzes Jahr fortsetzen, damit wir wieder auf den Stand von 1989 kommen.

Aber welche Politik braucht es dafür: wieder eine Lockerung der Geld und Kreditpolitik? Oder würde das die Inflation wieder anheizen?

Die Inflation in Brasilien ist das Resultat der Kämpfe um Einkommensverteilung. Nicht nur zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern, sondern auch zwischen Branchen, die um die Preise kämpfen. Und die enorme Inflation, die die Konsumenten verwirrt, macht viele Konkurrenzmärkte zu monopolistischen Märkten ...

... weil die Verbraucher nicht vergleichen können ...

Ja, jeder neue Preis wird akzeptiert, weil jeder sich daran gewöhnt hat, daß die Preise ständig steigen. Die soziale Kontrolle der Preise ist absolut unentbehrlich. Man braucht ein Netz von Verhandlungen, in dem — lokal und nach Branchen — die verschiedenen Preise entsprechend der Produktionskette einander angepaßt werden, entsprechend der Kosten.

Aber wer soll diese Berechnungen durchführen?

Es gibt, nach einem neuen Gesetz, das auf Vorschlag der PT zustandegekommen ist, jetzt sogenannte „camaras sectoriales“, also „Branchenkammern“, in denen die Unternehmer und Gewerkschaften sitzen und die von der Regierung koordiniert werden. Die Preise und Löhne müssen dort gewissermaßen simultan angepaßt werden. Nehmen wir das Beispiel der Spielzeugindustrie. Da sind von der entsprechenden Kammer die Preise freigegeben worden, und das ist auch richtig so, denn die brasilianische Fertigung muß konkurrenzfähig werden gegenüber der asiatischen. Und das bedeutet einen kompletten Plan über fünf oder 10 Jahre, ähnlich wie in Korea.

Das koreanische Modell galt doch der Linken immer als besonders repressiv gegenüber den Arbeitern.

Das ist eine andere Sache. Wir sind immer für eine aktive Industriepolitik eingetreten. Und dieser Weg ist absolut vereinbar mit Demokratie, mit ihr geht's sogar besser. Mein Modell sind eher die korporativistischen Erfahrungen von Schweden und Österreich. Durch die Demokratie sollen die Vorteile gerechter verteilt werden.

Können Schweden und Österreich — hochindustrialisierte, sektoriell spezialisierte und kleine Volkswirtschaften — wirklich ein Modell für das riesige, überschuldete, in vieler Hinsicht unterentwickelte Brasilien abgeben?

Die Unterschiede könnten nicht größer sein. Aber man kann sich von dem Modell inspirieren lassen. Bei uns kann das natürlich nicht so zentral ablaufen wie in einem kleinen Land, das muß lokal und in den einzelnen Branchen passieren, der Prozeß ist viel komplexer, man kann ihn nicht im vorhinein theoretisch bestimmen. Aber man muß mit irgend etwas anfangen, denn der Markt produziert nur hohe Inflationsraten. De facto kann man Reallöhne nicht um 100 Prozent erhöhen, auch wenn das eine ganz legitime Forderung ist. Aber wenn die Gewerkschafter bereit sind, darüber zu verhandeln, daß es diese 100 Prozent innerhalb der nächsten zwei oder drei Jahre gibt, ist das eine ganz andere Perspektive.

Brasilien hat seit 1989 nur etwa die Hälfte der fälligen Zinsen für seine Auslandsschulden gezahlt. Glaubt man den öffentlichen Erklärungen der Regierung kurz vor der Reise von Präsident Collor nach Washington, dann will sie wieder ein braver Schuldner werden — in der Hoffnung, daß ihr dann ein Teil der Schulden erlassen werden. Ist das eine sinnvolle Strategie?

Die Außenschulden sind zum größten Teil verstaatlicht worden, und alle Außenhandelsüberschüsse nützen wenig, solange sie in private Taschen fließen. Das Staatsbudget aber kann gar nicht einen so großen Überschuß haben, um alle Zinsen zu bezahlen. Ich sehe keine Möglichkeit für ein Abkommen, wenn nicht die Banken auf 50 Prozent der Zinsen verzichten. Ich glaube aber, dieses Problem ist für Brasiliens Wirtschaft ziemlich unwichtig. Die Banken haben ohnehin kein Vertrauen und wollen Brasilien keine neuen Kredite geben. Also welchen Vorteil haben wir, wenn wir die alten Kredite bedienen?

Kann Brasilien es wirklich verkraften, sich vom internationalen Kreditgeschäft abzukoppeln?

Ohne weiteres. Wir haben einen enormen Überschuß in harten Devisen. Wenn wir die nicht zum Abzahlen ausgeben, haben wir das Geld direkt.

Ist das eine Empfehlung an den Wirtschaftsminister?

Da ich nicht Wirtschaftsminister bin, kann ich sagen, was ich denke. Wenn ich es wäre, müßte ich vielleicht aus diplomatischen Gründen sagen: Wir wollen ein Abkommen. Aber das ist ein Bluff.

Also wenn Wirtschaftsminister Moreiro jetzt sagt, er will zahlen, ist das geblufft?

Ich hoffe es. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Regierung wirklich einen so hohen Budgetüberschuß erwirtschaftet. Interview: Thomas Fatheuer/Michael Rediske