Eine Nötigung, von der Geschichte getilgt

■ Vom Fraktionszwang befreit, mußten die Abgeordneten selbst denken. Manche änderten ihre Meinung noch im letzten Moment

Ich freue mich nach innen“, antwortete Lothar de Maizière wie entrückt, noch ganz unter dem Eindruck der elf langen Stunden im Bundestag, obwohl die Abstimmung längst vorbei war. Wie er dort im Garten der Berliner Landesvertretung das Bierglas in der Hand drehte, da war die Spannung zu spüren, unter der er die Abstimmung durchlebt hatte. Und nun die „ungeheure Genugtuung“, wie es dann doch aus ihm herausbricht, die ein gut Teil Reflex einer tiefen Erbitterung ist. Die „Nötigung“, die nicht rechtens war, ist zwar nicht juristisch geahndet, aber politisch zunichte gemacht worden, freut sich der Anwalt de Maizière. Er meint die Erpressung des nordrhein-westfälischen Ministers Clement (SPD). Er lasse den Einigungsvertrag im Bundesrat platzen, hatte Clement gedroht, wenn nicht festgeschrieben werde, daß über die Frage des Regierungssitzes später entscheiden werde. Clement dirigierte dann in den letzten Wochen vor der Abstimmung im Bundestag als Wort- und Verhandlungsführer trickreich den Bonner Heerhaufen. „Das ist der größte Abend in meinem Leben“, sagt der letzte DDR-Ministerpräsident de Maizière nun.

Nach der Abstimmung, als der Jubel der Berliner im Wasserwerk verklungen und der Saal wieder leer war, saßen nur noch die Saaldiener zusammen; stumm, manche weinten. Da spürte man die ungeheure emotionale Last noch einmal, die sich in dem Gerangel der letzten Wochen angehäuft hatte, als die Konfrontation zwischen Bonn und Berlin immer unausweichlicher geworden war. Und wie die Sieger hatten auch die Verlierer längst noch nicht realisiert, was ihnen widerfahren war, nachdem sie so zuversichtlich und mit einer scheinbaren Mehrheit in die Debatte gegangen waren. „Jeder Sieg ist auch bitter“, sorgte sich der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gansel, der selbst für Berlin gestimmt hatte, um die aufgerissenen Gräben. Der Bonner Bürgermeister Daniels saß leichenblaß, das Gesicht eine einzige Maske, in der Loge über dem Plenarsaal. Arbeitsminister Norbert Blüm, der den Bonn- Antrag eingebracht hatte und von vielen als eklatante Fehlbesetzung eingestuft wurde, hatte die Worte verloren und stotterte nur, hilflos dem inneren Fall nachspürend. Blüm mochte in diesem Moment schon ahnen, daß er die Niederlage zu tragen haben wird, die eine Zerreißprobe für die nordrhein-westfälische CDU werden kann. „Was sollte ich sagen nach Schäuble?“ fragte der FDP-Politiker Baum, der nach dem brillanten Berlin-Plädoyer des Innenministers für Bonn stritt. „Man kann mit unserer Position nicht konkurrieren gegen dieses Pathos“, analysierte Baum, und eine tiefe Resignation schwang mit.

Keine billigen Argumente

Elf Stunden hatte der Bundestag in einer eindrucksvollen Weise gestritten. Losgelöst vom Fraktionszwang, der ihnen das Denken abnimmt, rangen die Abgeordneten schwer mit ihrer Verantwortung, schwangen sich auf zu einem hohen Niveau der Debatte, bei der die Kontroverse sich quer durch alle Lager zog. Da gab es Beifall für jene, die ansonsten als politische Gegner gelten, und Ablehnung aus den eigenen Reihen schlug den Parteifreunden entgegen. Die Kosten eines Umzugs, jenes Hauptargument der Bonner, spielte dabei eine geringe Rolle — so billig mochten es sich die Abgeordneten nicht machen, konnten sie es sich nicht machen. Wie sollten die Probleme in Ostdeutschland zu lösen sein, wenn Politiker nicht einmal die möglichen Arbeitsplatzprobleme im reichen Bonn für bewältigbar halten? Thierse, Brandt, Kohl und vor allem Schäuble hatten mit ihren Reden die Meßlatte hoch gelegt. Sie hatten eine Debatte erzwungen, in der es um Berlin als Vollendung der Einheit und Schritt in die europäische Einigung ging, wenn Europa weit nach Osten reicht und die ehemalige Mauerstadt sich nicht mehr in einer „Randlage“ befinde, sondern ein guter Standort sei, wie Kohl sagte.

Da war die Stimmung gekippt im Wasserwerk, auch wenn die Bonn- Befürworter dies bis zum späten Abend nicht wahrhaben wollten. Mancher Abgeordneter änderte im Laufe des Tages seine Meinung. Auch der Versuch, Bonn als Faustpfand des Föderalismus hinzustellen, war nicht glaubwürdig, weil sich in den letzten Tagen 12 der 16 Länderparlamente für Berlin ausgesprochen haben.

Ihre Chancen verspielten die Bonn-Freunde dann zusätzlich durch ihre sture Kompromißlosigkeit. Überraschend war die Debatte gegen neun Uhr abends beendet worden, nachdem zuvor bereits fast hundert Abgeordnete gesprochen hatten und noch fast achtzig Redner auf der Liste standen. Die parlamentarischen Geschäftsführer von CDU/CSU, Bohl, und der SPD, Struck, hatten die meisten überredet, ihre jeweils fünfminütigen Reden zu Protokoll zu geben. Im Laufe des Abends war der Überdruß gewachsen an all den Wiederholungen, mit denen so mancher seine Jungfernrede vor dem hohen Haus gab.

Im ersten Wahlgang erhielt das Modell des stellvertretenden CDU/ CSU-Fraktionsvorsitzenden Geißler für eine Aufgabenteilung — Regierung bleibt in Bonn, Parlament geht nach Berlin — nur 148 Stimmen. Von den 655 Abgeordneten votierten 489 dagegen. Eine Niederlage für Geißler, die erwartet wurde — und dennoch ein persönlicher Erfolg für den ehemaligen CDU-Generalsekretär. Er habe in der Fraktion deutlich an Gewicht gewonnen als Integrator und derjenige, der sich ernsthaft um einen Ausgleich bemüht habe, meinen Unionsabgeordnete wie der ehemalige Weizsäcker-Sprecher Pflüger im Gespräch. Während das Geißler-Modell in der SPD scharf abgelehnt wurde, auch von jenen, die für Berlin eintraten, stimmten in der Union zusätzlich zu jenen fünfzig, die das Geißler-Modell unterstützt hatten, auch nahezu einhundert Berlin-Freunde dafür. Die Bonn- Freunde aber beharrten auf „alles oder nichts“ und stimmten strikt gegen Geißler. Brüskiert von der starren Haltung der Bonner, verteilten sich jene Geißler-Befürworter dann bei der Schlußabstimmung nicht auf beide Städte, sondern — und das gab den Ausschlag — schlugen sich auf die Seite der Berliner. Deren Modell, daß den Verwaltungsunterbau in Bonn belassen will und Übergangszeiten des Umzugs bis zu zehn Jahren vorsieht, erschien den Abgeordneten kompromißbereiter und näher am Geißler-Vorschlag als das Bonner Angebot, alles beim alten zu lassen.

Wie der Beschluß — nach der korrigierten Zählung 336 zu 321 für Berlin — nun in ein Gesetz umzusetzen sei, wie die Hauptstadtplanung verlaufen solle, welche der Ministerien wann umziehen werden, auf all diese Fragen konnte die Bundesregierung am gestrigen Tag noch keine Antwort geben. „Wir sind doch erst am Morgen nach der Abstimmung“, sagte Regierungssprecher Vogel entschuldigend. In der Berliner Landesvertretung wurden dagegen in der Nacht zuvor bereits Nägel mit Köpfen gemacht: Man müsse sich nun schnell mit Immobilienmaklern zusammensetzen. „Aber seriös müssen sie sein“, forderte ein Politiker. Gerd Nowakowski, Bonn