„Von den Russen abgeholt“

■ Erinnerungen an die Zeit in einem sowjetischen Internierungslager/ Tausende Jugendliche wurden verhaftet/ Jahrelang keinen Kontakt zur Außenwelt/ Jahrzehntelang die Haft verdrängt

Am 16.Februar 1946 wurden Harry Wüstemann und seine Freunde in Vockerode, Sachsen-Anhalt, verhaftet. Die Anschuldigungen lauteten „Waffenbesitz“ und Mitgliedschaft zur nationalsozialistischen Untergrundorganisation „Wehrwolf“. Eine unbelegbare Beschuldigung genügte für die Verhaftung. Eine gerichtliche Beweisführung erfolgte nicht.

In einem fensterlosen, eiskalten Kellergewölbe der sowjetischen Kommandantur in Oranienbaum verbrachten die Jungen die ersten Wochen auf blankem Ziegelboden. Keinen Schutz vor Kälte gab es außer dem, was sie am Leibe trugen. Tage und Nächte bestrahlte man sie mit hellem Licht. Nicht selten kamen nachts angetrunkene Wachsoldaten in die Zelle und mißhandelten die Häftlinge.

Erst im Sommer 1946, Monate nach der Verhaftung, verurteilte ein sowjetisches Militärgericht im Gefängnis Dessau die Jungen zu jeweils neun beziehungsweise zehn Jahren Straflager. Das Gerichtsverfahren dauerte nicht länger als fünf Minuten. Häufig wurden Urteile von 15, 20 oder 25 Jahren Haft gefällt.

Die ersten Monate nach der Verurteilung, bis Herbst 1946, saß Harry Wüstemann im berüchtigten „Roten Ochsen“, dem Zuchthaus von Halle. Danach fast zwei Jahre in der Festung Fort Zinna, nahe Torgau. „Fort Zinna — seinerzeit ein hochmoderner Gefängnisbau, von den Nazis als Militärstrafanstalt errichtet — war die Hölle für uns Strafgefangene“, erinnert sich Harry Wüstemann. „Die Zellen total überbelegt. Fünf bis sechs Mann eingepfercht in einer Ein-Mann-Zelle; in großen Sälen teils bis zu mehreren hundert Menschen. Und ständig kamen neue Zugänge. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Kaum ein Lufthauch, geschweige denn ein Sonnenstrahl erreichte das Innere. Ensetzlich die Luft und der Gestank von den Ausdünstungen der Menschen, von der Verrichtung ihrer Notdurft.

Nur in großen, unregelmäßigen Zeitabständen wurden wir kurzzeitig mal an die frische Luft auf den Hof der Strafanstalt geführt.

Kriegsentbehrungen, Hunger, Entkräftung und gegenseitige Ansteckungen ließen viele Krankheiten grassieren, vor allem Dystrophie und Lungentuberkulose griffen um sich. Der Tod hielt zunehmend reiche Ernte.“

Vierzig Jahre verdrängte Harry Wüstemann die vier Kerkerjahre aus seinem Bewußtsein. Jetzt, wo die heutigen Ereignisse zu einer neuen Sichtung der Vergangenheit herausfordern, reflektiert und analysiert er die eigene (Lebens-)Geschichte. „Man muß meines Erachtens einen gewissen Unterschied zwischen Straflagern und Internierungslagern machen. Die Straflager gab es nur in der sowjetischen Besatzungszone. Die Internierungslager wurden hingegen seinerzeit in allen Besatzungszonen Deutschlands wie auch außerhalb auf der Grundlage alliierter Vereinbarungen eingerichtet. Ihre Aufgabe war es, besonders ehemalige aktive Nazis und andere Mitschuldige am Krieg zu isolieren, damit sie einen Neubeginn demokratischer Entwicklung im Nachkriegsdeutschland nicht behindern konnten. Diese Internierungslager besaßen dadurch einen völkerrechtlich sanktionierten Status. Aus meiner unmittelbaren Kenntnis gab es solche Internierten auch in Fort Zinna und in Sachsenhausen. Sie waren jedoch von uns Verurteilten getrennt. Sie konnten arbeiten und sich in ihrem Lagerbereich frei bewegen. Sie waren eingestellt als Essenträger, Bademeister, Entlauser, Sanitätshelfer und Leichenträger. Denn es starben viele, vor allem von uns Verurteilten — auch wenn keiner gewaltsam umgebracht wurde. Es war ein Massensterben infolge der Haftbedingungen und -auswirkungen. Bedrückend war dabei der Gedanke, daß die Internierten immerhin die Chance hatten, über kurz oder lang wieder entlassen zu werden. Wir dagegen hatte eine lange Haftzeit vor uns. Wie sollte man unter diesen Bedingungen überleben?“

Heute ist bekannt, daß in anderen sowjetischen Lagern Internierte, Verurteilte und Nichtverurteilte, meist unschuldig Inhaftierte unterschiedslos zusammen waren und das gleiche Schicksal teilen mußten. Die Situation änderte sich, als im Spätsommer oder Herbst des Jahres 1948 die Strafgefangenen von Fort Zinna in Güterwagen abtransportiert wurden. Nach ungewisser Tag- und Nachtfahrt kamen sie in einem eingezäunten, mit Wachtürmen umgebenen Barackenlager an. „Nach dem Aufenthalt in den stickigen, düsteren und vollgepferchten Zellen von Fort Zinna erschien uns der neue Ort fast wie ein Paradies“, erinnert sich Wüstemann. „Wie sich herausstellte, waren wir in Sachsenhausen!“ Nach der Zerschlagung der Hitler-Diktatur diente das Konzentrationslager jahrelang als Internierungs- und Strafgefangenenlager. Harry Wüstemann traf Mitgefangene, die bereits unter Hitler im Lager gewesen waren.So erinnnert er sich an einen Ingenieur aus Plauen im Vogtland, der als Kommunist Jahre im KZ Sachsenhausen zubringen mußte. Nun ereilte ihn das gleiche Schicksal als Strafgefangener der sowjetischen Besatzungsmacht, weil er als kommissarisch eingesetzter Werksleiter in einem Plauener Textilbetrieb Maschinen vor der Demontage retten wollte.

In Sachsenhausen hörte Harry Wüstemann zum ersten Mal nach zweieinhalb Jahren seit seiner Inhaftierung etwas von der Außenwelt. Im Lager existierte ein Lautsprecher, der Rundfunksendungen brachte, und es gab die 'Tägliche Rundschau‘ und andere Zeitungen. Erstmalig wurde auch gestattet, in größeren Abständen den nächsten Angehörigen einen kurzen Brief zu schreiben. Keinen Hinweis auf den Aufenthaltsort, geschweige denn die Adresse durfte er enthalten, so daß eine Rückantwort nicht möglich war.

Am 6. Februar 1950 erhielt der mittlerweile 21 Jahre alt gewordene junge Mann endlich seinen Entlassungsschein. Es ist das einzige Dokument für ihn über diese Zeit. Unterschrieben ist es vom damaligen Polizeipräsidenten des Landes Brandenburg. Nichts deutet hin auf ein sowjetisches Straflager, nichts auf die Verurteilung durch ein sowjetisches Militärtribunal, auf den Grund oder die Dauer der Inhaftierung. Das Auswahlprinzip für die Entlassungen von 1950 ist unbekannt.

„Unmittelbar nach meiner Haftentlassung empfand ich nur Haß und Rachegefühle“, sagt Harry Wüstemann. „Ich hatte Scheu vor Menschen, und erst ganz allmählich kam ich in der Heilstätte Jerichow, wo ich meine Lungentuberkulose auskurierte, wieder zu mir selbst. Dort fand ich auch ein verständnisvolles Mädchen, die mir dabei half und noch heute meine Frau ist. So suchte ich mir schließlich eine moralische Rechtfertigung für das schrecklich Durchlebte: Genaugenommen — was konnte man denn auch anderes erwarten nach diesem Krieg! War doch buchstäblich jede sowjetische Familie durch die Grausamkeiten der Hitlerfaschisten betroffen. Bei aller eigenen und anderer Menschen Bitternis über das Erlittene in den sowjetischen Straflagern hier — es war eine Folge des Unrechts, das von den Deutschen ausgegangen war! So versuchte ich damit fertig zu werden. Dieses Denken ermöglichte es schließlich erst, mich in das Alltagsleben hier im Osten Deutschlands zu integrieren und damit eine berufliche Entwicklung zu nehmen, wie sie für viele Menschen in der ehemaligen DDR kennzeichnend ist. Erst mit den aufkommenden Diskussionen über den Stalinismus drängte sich für mich nach der Wende immer mehr die Frage auf, ob mit den sowjetischen Lager allein nur Unrecht und Schuld beglichen werden sollten. So wurde mir in meinen Erinnerungen erst jetzt richtig bewußt, daß damals Tausende Jugendliche inhaftiert wurden wie ich willkürlich der Zugehörgkeit zum Wehrwolf beschuldigt wurde. Demnach hätte diese Organisation, der sicherlich unverbesserliche Nazis und Irregeleitete angehört haben mögen, als riesige Untergrundarmee in der damaligen sowjetischen Besatzungszone existieren müssen. Eine zweite Gruppe von Gefangenen waren Ärzte, Künstler, Ingenieure und Angehörige anderer Intelligenzberufe. Mein schon vor meiner Inhaftierung erwachtes politisches Interesse führte mich schließlich oft mit älteren Mitgefangenen zusammen, die unter sich häufig politische Gespräche führten. Dabei lernte ich nicht wenige Sozialdemokraten kennen. Wie ich mich erinnere, waren auch diese unter falschen Anschuldigungen und fadenscheinigen Gründen inhaftiert worden. Wenn ich diese Erlebnisse und Erinnerungen aus heutiger Sicht bewerte, wird mir immer klarer, daß zielbewußt — ganz im Sinne des Stalinismus — damals viele zehntausend Menschen — Jugendliche, Intelligenz, Sozialdemokraten — als Hoffnungsträger einer neuen demokratischen Nachkriegsentwicklung in Deutschland durch ihre Inhaftierung ausgeschaltet werden sollten. So wurden von der sowjetischen Besatzungsmacht entschiedene Vorkehrungen für die möglichst konfliktlose Installierung des stalinistischen Herrschaftssystems und der SED als herrschender Einheitspartei in ihrer Besatzungszone getroffen. Ich bekenne, daß mir dieses erst durch die jüngsten politischen Ereignisse richtig zu Bewußtsein gekommen ist“, sagt Wüstemann. „Die Zeit der Wende war für mich begleitet von tiefem Nachdenken und innerer Bewegung. Ich fühlte mich in diesen Tagen von der Vergangenheit eingeholt. Vieles von dem, was in der Erinnerung verblaßt war, was ich auch verdrängt hatte, brach plötzlich wieder hervor und verlangt neu überdacht zu werden.“

Seit 1959 gehört Dr. Harry Wüstemann als Prähistoriker zum Lehrkörper des Historischen Instituts bzw. der späteren Sektion Geschichte an der Universität Rostock. Er hat Generationen von Lehrerstudenten mit dem frühesten Abschnitt der Menschheitsgeschichte vertraut gemacht. Seine Forschungsspezialstrecke ist die Bronzezeit.

Dr. Editha Wachholz, Mitarbeiterin der Pressestelle der Universität Rostock, sprach mit Harry Wüstemann. Frau Wachholz hat der taz den Text zur Verfügung gestellt.