„Du bist bei weitem zu fett!“

■ Berliner Meisterschaft in der rhythmischen Sportgymnastik für Mädchen/ Diät und Training „immer noch besser als Rauchen und Saufen!“

Charlottenburg (taz) — Es ist ein sehr wichtiger Wettkampf für die Mädchen zwischen sechs und zehn Jahren, entscheidend nicht nur über Talent, sondern auch über die Aufnahme ins neuzugründende Leistungszentrum.

Einige der kleinen, dünnen Kinder sind schon während des Aufwärmens blaß, ernst und sehr konzentriert, andere schieben sich schnell noch ein Stück Schokolade rein und kichern mit der Freundin. Unglaubliches können sie alle: das Bein bis zur Nase hochziehen, einen Ball von einem Arm auf den anderen rollen lassen, den Reifen exakt stoppen und mit dem Fuß aufnehmen. „Wir geben sehr acht auf die Mädchen, damit sie sich keine gesundheitlichen Schäden zuziehen“, sagt einer der Trainer, „zu tiefe Rückenbeugung bedeutet im Wettkampf Punktabzug.“ Dennoch: Das Turnen gehört zu den für Kinder gefährlichsten Sportarten. Besonders Wirbelsäulenverletzungen und Deformierungen sind üblich, wie ein Fachkongreß am Sonnabend warnte.

Spielerisch soll alles sein und ohne Zwang, die Anlagen sollen gefördert werden. Schon in diesem Alter erkennt man, welche einmal gut wird, am Körperbau, am Spreizvermögen, woran auch immer.

Die Vorstellungen beobachten Eltern und Trainer gleichermaßen gespannt, Papa und die Videokamera stehen am Rand, während Mama die Bewegungen des sorgfältig geschminkten und mit Haarkrönchen geschmückten Töchterchens nägelkauend verfolgt. Aber: „So etwas wie die vielgefürchteten Eislaufmütter gibt es nicht! Wir arbeiten eng mit den Eltern zusammen“, erklärt der Trainer. Drei- bis viermal pro Woche ein eineinhalbstündiges Training habe bei diesen durchdachten Methoden keinerlei negative Auswirkungen.

Wenn alles klappt, kommen die kleinen Mädchen eines Tages so weit wie Kerstin (15) und Diane (16), die mit dem TC 69 Wilmersdorf fünfte der Deutschen Meisterschaften in der Gruppenvorführung wurden. Sie trainieren täglich, nach der Schule und vor den Hausaufgaben. „Natürlich haben wir nicht so viel Freizeit wie unsere Klassenkameraden. Aber wir haben uns freiwillig für den Sport entschieden“, sagen sie und: „Am Wochenende ausgehen ist schon mal drin!“ Vielleicht können sie sogar bald Geld verdienen mit der rhythmischen Sportgymnastik, denn im Gegensatz zu anderen Sportarten gibt es hier Sponsoren, bisher allerdings nur T-Shirts vom SFB.

Das Bild von der schönen heilen Kinderwelt rücken sie allerdings zurecht: „Die Kleinen sind überhaupt nicht ehrgeizig, der Druck kommt von den Eltern und Trainern. Der Ehrgeiz kommt erst später, wenn man älter wird.“ Sie berichten von einer Mutter, die ihre kleine Tochter gegen ihren Willen ins Sportinternat geben wird, und von Trainern, die schreien: „Du bist viel zu fett!“ Magersucht kommt durchaus vor, „aber im Schnitt essen wir mehr als andere Leute“, nur vor Wettkämpfen muß streng Diät gehalten werden. Danach aber nimmt jede sehr schnell wieder drei Kilo zu.

Und die Gesundheit? Sportgymnastik kann die Knie, den Rücken, die Füße ruinieren, wissen Kerstin und Diane, aber „unsere Klassenkameraden, die keinen Sport treiben, die rauchen und saufen, das ist doch genauso gesundheitsschädlich, oder? Wir wollen ganz einfach im nächsten Jahr Deutscher Meister werden!“ Eine viel dümmere Idee als zu rauchen und zu saufen ist dies jedenfalls auch nicht. Elke Wittich