„Gerhard Rosenfeld? Nie gehört“

■ Gerhard Rosenfeld, einer der ungewöhnlichsten Komponisten der DDR, lebt seit der Wende vom Ersparten. Von UTE SCHEUB

Wie nennt ein Komponist seinen Papagei? Pamina. Aber trotz des Namens erweckt Pamina nicht den Eindruck, aus Mozarts Zauberflöte entflattert zu sein. Sie singt keine Arien, die schöne Pamina, sie tiriliert und jubiliert nicht, sie schwätzt und plappert nicht. Ganz still sitzt sie in ihrem Bauer und schaut in den Garten, der das kleine braune Haus in Bergholz-Rehbrücke bei Potsdam umwuchert. „Ich will gar nicht, daß sie redet, das ist doch unnatürlich“, sagt ihr Besitzer. Gehabe und Getue, Moden und Mätzchen, all das kann Gerhard Rosenfeld auch bei den Menschen nicht leiden.

Ist das der Grund, warum er — der trotz oder gerade wegen seiner Distanz zur Partei der Arbeiterklasse bei vielen als der bedeutendste zeitgenössische Komponist der DDR galt — nunmehr am Rande des Vergessens lebt? Sage und schreibe 125 D-Mark hat er seit der Währungsunion verdient, für einen Zeitungsartikel. Und dabei blickt der 60jährige auf ein vielseitiges Werk zurück: Kammermusikstücke, Lieder, Sinfonien, Chormusik, Opern, Filmvertonungen. Marktgängig und gefällig ist sie allerdings nicht, seine Musik. Eher eigenwillig, gradlinig, klar und transparent, gefühlvoll von zärtlich bis zornig. Melodien werden oft nur angedeutet, Rhythmen überlagern sich, wechseln sich ab mit flirrenden Clustern und impressionistischen Klangfarben.

Zur Musik kam er ausgerechnet, weil er einst so still wie seine Pamina war. 1931 als einziges Kind einfacher Leute in Königsberg geboren, durchlebte er früh die Schrecknisse des Krieges, durchfuhr als 13jähriger Flüchtling und Schiffspassagier die Treibminen auf der Ostsee, schlug sich alleine zu seinen Verwandten in Bergholz-Rehbrück durch. Der Krieg mußte erst zu Ende gehen, bevor eine Schulmusiklehrerin aus Potsdam seine Leidenschaft für die Musik entfachen konnte.

Kurz vor dem Abitur nach seinem Berufswunsch gefragt, wollte der introvertierte Junge mit dem auffallenden Ostpreußenakzent jedoch noch lieber „Bienenbildner“ werden. Ein Turnlehrer, der ihn nicht leiden konnte, vermasselte ihm die Tour: Die geforderte Stellungnahme zu seinem „gesellschaftlichen Verhalten“ fiel zu negativ aus. „Ich war auch zu still“, sagt Rosenfeld, schaut mit großen Augen durch die Brille und lächelt ein schüchternes Jungenlächeln. Seine weichen Gesichtszüge lassen ihn jünger erscheinen als er ist. Doch auch heute noch, mit seinen sechzig Jahren, sei das ab und zu noch so, daß er „fast gar nichts" sage.

Er hat ja seine Musik. Und manchmal auch die Texte, die er vertont. Briefe von Heinrich Kleist zum Beispiel, die er selbst ausgesucht hat. Unter anderem den an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge: wie ein lebensmüder Dichter den Anblick eines Stadttores als lebensrettendes Gleichnis erlebt. „Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal stürzen wollen. Und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost.“ Kleist, sagt der Komponist, „war ja innerlich sehr kompliziert", und es klingt, als ob er über sich selber spräche.

Kompliziert und dornenreich, so war Rosenfelds Weg zur Musik. Er schlug sich mit englischer Handelskorrespondenz durch, fiel durch die Klavierprüfung der Berliner Hochschule für Musik, wechselte zur Humboldt-Universität, wurde auf Umwegen denn doch in die Musikschule aufgenommen und begann 1955 Komposition bei Rudolf Wagner-Régeny zu studieren. „Zuerst dachte ich: Hurra! Aber Wagner-Régeny hatte die Angewohnheit, eine Schülerarbeit auf dem Notenpult links mit Strawinsky und rechts mit Schönberg zu flankieren. Diese Vergleiche hatten einen katastrophalen Effekt bei mir: Ich kriegte nur noch Anfänge hin.“

Erst als er auf Musiktheorie umgewechselt hatte und als Leiter des Musikensembles im Berliner Werk für Fernsehelektronik „von einem Tag auf den anderen Stücke fabrizieren" mußte, weil es für 19 Trompeter, 17 Akkordeonspieler und sieben Sänger nun mal keine Werke gab, flutschte es plötzlich. „Und Wagner- Régeny fragte mich: Wollen Sie sich nicht für die Meisterklasse an der Akademie für Künste bewerben?“ So wurde Rosenfeld Meisterschüler bei Hanns Eisler und Leo Spies.

Seinen Durchbruch als freischaffender Komponist schaffte er mit dem „Konzert für Violine und Orchester“. Ein furioses Opus, ein wunderbar stürmisches und empörtes Stück, das sich wie eine Vertonung von Ernst Blochs „Aufrechtem Gang“ anhört. „Damit bin ich zufrieden“, sagt er bescheiden, als er seinem Gast das Konzert und die Kleist- Vertonung vorführt. „An beidem würde ich nichts ändern, nein. Das gilt keineswegs für alle meine Stücke.“

Schuld an der Entstehung des Konzerts, erinnert er sich, war der damals berühmte Geiger Gustav Schmahl, der sich mit der Wende als Potsdamer Taxiunternehmer etablierte. „Im August 1963 erzählte er mir, er wolle das Werk im September zur Aufführung bringen. Ich hab das Werk rausgehauen, das ist rausgesaust wie aus einer Sektflasche.“ Es sprudelte nur so, und am Ende, nach der überaus erfolgreichen Uraufführung in Dresden, waren Komponist und Publikum „wie besoffen“.

Auch der Komponistenverband wurde aufmerksam auf den damals 32jährigen Kollegen. Er nahm die Noten genau unter die Lupe, und siehe da, trotz VEB-hergestelltem Notenpapier waren sie einfach nicht linientreu. Das Werk sei „nicht optimistisch genug“, gar „klassenfeindlich“, es strahle „das Lebensgefühl der DDR nicht aus“, wütete ein Redner auf einer öffentlichen Sitzung des Verbands. Bis Rosenfelds Lehrer Leo Spies — „der lauterste Mensch, den ich je kennengelernt habe“ — mit hochrotem Kopf aufstand und den Kollegen verbat, mit einem gerade beginnenden Komponisten so umzuspringen.

Ohne diesen Einsatz wäre der angehende Künstler vielleicht erneut verstummt, diesmal unter äußerem Zwang. Gerhard Rosenfeld hält inne im Erzählen, reibt mit den Fingern an der Stirn. Hinter ihm im Bauer regt sich der Vogel, dessen Brustfleck so rot ist wie der Pullover seines Besitzers. Doch ein Ton ist ihm immer noch nicht zu entlocken. „Nur beim hohen E, beim zweigestrichenen E, da fängt er an zu schreien“, erklärt Rosenfeld lächelnd. Warum, das kann er auch nicht erklären: „Die Schwingung muß ihn irgendwie anregen.“

Die Partei der Proletarier fand es auch in Zukunft nicht passend, sich auf einem Rosenfeld betten zu lassen, und umgekehrt war die Sympathie noch geringer. „Ich bin nie in irgendeiner Partei gewesen, ich hatte nie den Ehrgeiz, irgendeinen Posten zu kriegen“, bekennt der Komponist. „Damals saß ich zwischen allen Stühlen, heute sitze ich dort wieder. Und eigentlich ist das auch der richtige Platz für mich.“

Das Dumme ist nur, daß ein Nonkonformist wie er mit dieser Haltung heute buchstäblich in der Luft hängt, während damals selbst die Sitzlücke noch ein wenig gepolstert war. Kaum eine andere Berufsgruppe hat durch Wende und Währungsunion heftigere materielle Verluste hinnehmen müssen wie die freischaffenden Künstler. Nicht nur Gerhard Rosenfeld steht heute ohne einen Pfennig Einnahmen da, während weiland das staatliche Auftragswesen immer für ein Auskommen sorgte. Die Aufträge, erinnert sich der Komponist, kamen von Interpreten, vom Rundfunk, von Theatern.

Mit einem engen Freund, dem Russischlektor Gerhard Hartmann, schrieb er insgesamt fünf Opern und ein „Friedensgloria“. Laut und dissonant, hatte es mit dem üblichen realsozialistischen Friedensgesäusel nichts gemein, dennoch wurde es im März 1985 im Schauspielhaus Berlin uraufgeführt. „Keiner soll über einen herrschen, keiner soll sich einem unterwerfen“ — solche damals geradezu anarchistischen Bekenntnisse trug eine Sopranstimme zwischen apokalyptischen Paukenschlägen und hoffnungsvollen Oboenklängen vor.

Hat da das Zentralkomitee keinen Einspruch erhoben? „Sie haben uns ja gefragt, wie wir das auslegen. Wir antworteten: gar nicht. Sie schluckten das, sie wollten damals keine Konfrontation mit den Künstlern.“ Warum? Rosenfeld möchte keine Illusionen nähren: „Kunst vermag nicht viel zu bewegen. Schön wä's ja, wenn es anders wäre.“ Und dennoch schränkt er gleich wieder ein: „Es ist so wichtig, Macht infrage zu stellen“, das sei „das A und O“, egal, wann und wo. Gandhi, Böll, Bloch, Sartre, Camus, die vermisse er heute als „moralische Instanzen“, die hätten „Wahrhaftigkeit“ repräsentiert.

Moral, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, innere Haltung, geistiges Leben, all dies antiquierte Zeugs, das auf dem sozialistischen Kunstmarkt nur hinderlich war und auf dem kapitalistischen bloß stört, ist für einen Gerhard Rosenfeld elementar. Zusammen mit der Journalistin Anita Geigges, die das Libretto schrieb, arbeitete er ohne jedes Honorar drei Monate an einem „Requiem für Kaza Katharinna — dem Andenken und zur Ehre aller verfolgten Roma“. Die Uraufführung im Juni 1990 in der Mainzer Johanniskirche mit Jenny Abel an der Violine und dem Schnuckenack Reinhardt Quintett begeisterte die Zuhörenden und riß finanzielle Löcher in die Tasche der Teilnehmenden.

Noch kann er das hinnehmen, noch lebt er, recht spartanisch und bescheiden, allein vom Ersparten. Welch Paradox, daß ihm, der eine persönliche Wende nie nötig hatte, die politische Wende das Leben von oben nach unten krempelte. Eine Schallplatte wurde nicht mehr aufgelegt, eine Biografie mitten im Druck gestoppt, ein großer Konzertauftrag gekündigt, eine für Februar 1990 geplante Uraufführung seiner Oper über Friedrich II. gekippt. Und immer wieder die gleiche Begründung: Kein Geld mehr da, DDR-Werke sind jetzt unverkäuflich, wir müssen Kassenschläger für die Westberliner bieten.

Jetzt hofft Rosenfeld leise auf eine Freiluftaufführung der abgesetzten Oper im Jahre 1993 zum tausendsten Gründungsjahr von Potsdam. Die Unterstützung des Oberbürgermeisters hat er schon, allein, es fehlt an Sponsoren.

Auch mit der Filmmusik ist es aus. Die Vertonung diverser Streifen hat ihn besser als alle anderen Aufträge ernährt. „Ich weiß, ich kann das, und ich würde es gern wieder machen.“ Doch nun ist ja vorerst nichts mehr mit den Defa-Studios um die Ecke.

Bitter muß es sein, nun die Klinken bei fernen Rundfunkstationen oder Studios putzen zu müssen und dann zu hören: „Rosenfeld? Nie gehört.“ „Ich muß wieder bei Null anfangen", glaubt er, „und zu verhindern suchen, daß die Liste meiner Werke ausgelöscht wird.“

Da beginnt der Papagei zu schreien. Ja wirklich, Pamina schimpft und protestiert wie ein Rohrspatz, auch ohne zweigestrichenes E. Gerhard Rosenfeld lächelt. „Ich glaube, er will bloß, daß wir uns ihm zuwenden. Einsamkeit, das erträgt er nicht.“