DEBATTE
: Japans Vorsprung

■ Der Westen beginnt, den japanischen Erfolg zu dämonisieren

Ist Japan noch von dieser Welt? Edith Cresson, die Nippon-Kritikerin auf dem Pariser Regierungsstuhl, sieht das anders. Japan sei von einer anderen Welt, erklärte Frankreichs neue Premierministerin zum Amtsantritt. Schon sieht sie das Sonnenbanner hoch oben wehen, auf dem Weg zur „Welteroberung“. Edith Cresson will nicht nur die eigene Grande Nation, sie will ganz Europa ins Gefecht gegen Japan führen und schlägt als Regierungsvertreterin einen Ton an, der selbst das „Japan-bashing“ in den USA um einiges an Vehemenz übertrifft. Warum?

Steil und steinig liegen die Wege des Wirtschaftswachstums vor Europa. Frankreich und England stecken in der Rezession, auf Deutschland lastet die Vereinigung, und wehe dem, der weiter nach Osten schaut. Wachstums- und Kreditängste plagen den gesamten Globus. Auch in Amerika regiert die Wirtschaftskrise von Feuerland bis Alaska. Afrika verkündet eine neue Hungersnot, und im Nahen und Mittleren Osten legt sich schwarzer Ruß oder Asche über das Elend der Menschen. Es ist, als gäbe es auf der Welt nur noch einen Platz an der Sonne — Japan.

Die Welt kriselt, Japan boomt

Weder Wirtschaftskrise noch sozialer Unfrieden, weder Völkerwanderung noch Wettbewerbsverluste bedrohen die Wirtschaftssupermacht in Fernost. Nicht einmal Arbeitslosigkeit ist in Japan ein Problem. Statt dessen vermeldete die Bank of Japan vor kurzem ein nationalhistorisches Ereignis: Im August dieses Jahres wird die andauernde Wachstumsperiode der japanischen Volkswirtschaft den legendären „Izanagi- Boom“ der sechziger Jahre einholen. Dann hat sich Nippons Wirtschaftswunder selbst übertroffen.

Andere Länder riß der Golfkrieg in die Krise; Japan aber hat das Kriegsintermezzo ohne Verluste überstanden. Zwar lasse das Wirtschaftswachstum auch in seinem Land langsam nach, meldet die Bank of Japan, doch gebe es keinerlei Zeichen für einen größeren Einbruch. Ob bei Inflation, Wachstum, Handelsbilanz oder Arbeitslosigkeit — Japan ist allen Konkurrenznationen überlegen. Finanzminister Ryutaro Hashimoto beschreibt die wirtschaftliche Lage als robust. Verantwortlich hierfür sind seiner Meinung nach die anhaltende Investitionsbereitschaft der japanischen Unternehmen und der steigende Privatkonsum.

Hashimoto argumentiert dabei auf einer Grundlage, die im Westen schon gar nicht mehr vorstellbar ist: nämlich die der Vollbeschäftigung. Arbeitskräftemangel treibt in Japan die Unternehmen zur Investition an und ermöglicht bei steigenden Löhnen gleichzeitig vermehrten Privatkonsum. Ähnliche volkswirtschaftliche Bedingungen finden wir in Europa nur in der Schweiz.

Nie war Nippons wirtschaftlicher Vorsprung so groß wie heute, und nichts weist darauf hin, daß er in absehbarer Zeit wieder schwindet. In den Schlüsselindustrien der 1. Welt— Automobilbranche, Computergeschäft, Kommunikationstechnologien — verfügen japanische Unternehmen über die besten Ausgangspositionen. Die im Ausland viel beschworene Aktienblase ist in Tokio schon vergangenes Jahr geplatzt, hat aber nicht zum prophezeiten Konjunkturrückgang geführt. Damit ist nicht gesagt, daß stetiger Wachstum in Nippon ewig zu währen braucht. Doch zum ersten Mal muß sich die westliche Welt dauerhaft darauf einstellen, ökonomisch auf eine Art und Weise ausgebootet zu werden, daß es dauerhaft an ihre Substanz geht.

Ein kohärentes Gesellschaftsmodell

Längst weiß der Süden, was für ihn der Wachstum im Norden bedeutet. Heute ahnt Edith Cresson und mit ihr viele Europäer, welche Folgen der japanische Erfolgskurs für sie haben kann — nämlich weitere Marktanteileinbußen, Verluste, Entlassungen. Detroit gibt der Welt das Beispiel, und die Gesetze des freien Marktes sehen es so vor.

Gelassen nehmen die Japaner zur Kenntnis, wie die Nervosität im Westen steigt. „Bedauerlich“ nannte Finanzminister Ryutaro Hashimoto die starken Worte der französischen Regierungschefin und Mitterrand-Gefolgsfrau. Und kommentarlos überging die japanische Regierung unlängst einen CIA-Bericht, der ihrem Land das Profil als demokratische Nation abspricht. So sicher ist sich Japan seiner selbst. „Der Schlüssel zur japanischen Stärke“, analysiert denn auch Kenneth Courtis, Chefberater der Deutschen Bank in Tokio, „beruht auf einem völlig kohärenten Sozialvertrag. Der besteht aus einer unausgesprochenen Beschäftigungsgarantie auf Kosten einer geringen sozialen Sicherung und permanenter Produktivitätssteigerung.“ Courtis deutet damit an, daß Nippon nicht nur auf Computermärkten konkurrieren kann, sondern ebensogut als gesellschaftliches Gesamtmodell.

Peinliche Attacken gegen die „Barbaren“

Aus japanischer Sicht ist der US- amerikanische Traum vom unbegrenzten Individualismus längst in Armut, Drogen und Gewalt versandet. Warum zählt man in den USA denn 40 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze? Warum duldet die EG in Spanien oder Portugal Jugendarbeitslosigkeits-Raten von 40 bis 50 Prozent? lauten die Retourkutschen aus Tokio. Man übersieht auch nicht, daß sogar die erfolgreichen Modelle der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland und Schweden bei steigender Arbeitslosigkeit vor harten Bestandsproben stehen. Warum also das strenge japanische Erziehungssystem ändern, wenn mehr Freiheit doch nur in den Drogen-Abgrund führt? Warum mehr Marktfreiheit in das straff reglementierte japanische Warenvertriebssystem einführen (wie es die US-Regierung von Japan fordert), wenn weniger Vorschriften doch nur mehr Supermärkte und mehr Arbeitslosigkeit schaffen?

Weil politische Kritik, die die globalen und ökologischen Folgen des japanischen Erfolges hinterfragen würde, zur Zeit auch im Westen Mangelware ist, flüchten sich dessen Protagonisten, von Edith Cresson bis zur CIA, in oft peinliche, kulturideologisch gefärbte Attacken gegen die neue Führungsmacht in Fernost. So beklagen die Experten der CIA bereits die „Abwesenheit moralischer Imperative“ in Japan, der sich der Westen auf der Basis seiner „jüdisch- christlichen Ethik“ entgegenzustellen hätte. Damit geben sie freilich nur ein Beispiel ihrer eigenen Argumentationsnot. Der Westen wird erkennen müssen, daß moralische Anwürfe Japan nicht treffen. Ebenso begrenzt kann die marktideologische Kritik greifen, die den angeblich verschlossenen japanischen Binnenmarkt attackiert. Lange Zeit kritisierten Washington und Brüssel die japanischen Handelszölle. Doch jetzt, wo sie gefallen sind, bestehen die unausgeglichenen Handelsbilanzen ebenso wie das Wettbewerbsgefälle mit Japan fort.

Macht Japan den Westen zur „Dritten Welt“?

Die Vorwürfe des Westens verbergen im Kern die verständliche Angst, im Verhältnis zu Japan längerfristig vielleicht dem gleichen Joch unterliegen zu müssen, das die ärmeren Länder der Dritten Welt gegenüber dem reichen Norden schon immer ertrugen. Schließlich gleicht der Warenaustausch zwischen Japan und den USA — Elektronik gegen Rohprodukte — bereits dem Verhältnis der Ersten zur Dritten Welt. Schon in den achtziger Jahren forderten die USA und die EG feste Mikrochip-Preise von Japan, heute verlangen EG-Hersteller auch Festpreise für Telefon- und Faxgeräte, betteln die Automobilhersteller Europas um Schutz vor der japanischen Konkurrenz. Qualitativ unterscheiden sich solche Forderungen immer weniger von dem Schrei des Südens nach gerechteren Kaffee- oder Teepreisen. Es ist jeweils der Schwächere, der sein Recht zu produzieren, d.h. zu leben, einklagt.

Für viele galt Japan bisher lediglich als eine neue Herausforderung an die westlichen Marktwirtschaften. Aus dieser Konkurrenzsituation kann nun leicht ein geschlossenes, politisch und kulturell motiviertes Feindbild Japan entstehen. Edith Cressons Japan-Polemiken folgen diesem Konzept. Doch gibt sie damit lediglich ein Beispiel, wie sehr es allen westlichen Regierungen an erprobten Mitteln einer auf gegenseitigen Ausgleich ausgerichteten Welthandelspolitik fehlt. Bisher hatte den im Norden auch keiner nötig. Georg Blume, Tokio