INTERVIEW
: „Nicht gigantomanisch werden!“

■ Wolfgang Thierse (SPD), wohnhaft Berlin-Prenzlauer Berg, zur Zukunft der Hauptstadt

taz: Sie haben gesagt, Berlin dürfe sich jetzt nicht nur durch Bauwut auf seine künftige Rolle als Regierungssitz vorbereiten. Wie denn sonst noch?

Wolfgang Thierse: Alle Berliner Politiker sollten sich die Reden der Bonn-Anhänger sehr genau ansehen. Dort werden sie sehr viel erfahren von den Ängsten vor Berlin, vor einer Metropole und ihren Gefahren.

Können Sie als prominenter Berlin-Befürworter jetzt, wo die Entscheidung gefallen ist, auch zugeben, daß Sie selber Ängste haben?

Diese Gefahren gibt es auf jeden Fall. Aber jetzt, wo wir bei den Investoren nicht mehr bitten und betteln müssen, wo wir ihnen selbstbewußt gegenübertreten können, sollten die Berliner Politiker Bedingungen stellen, die der Stadt gemäß sind. Es muß ein politisches Konzept für die Stadtentwicklung geben, in das die Investitionen eingepaßt werden.

Diese Entscheidungen fallen ja größtenteils schon bald— noch bevor Parlament und Regierung umziehen. Ist ein gemeinsames Bundesland Berlin-Brandenburg ganz schnell nötig, um die Entwicklung wirklich steuern zu können? Die Gemeinden im Umland, das zeigt sich bereits, sind doch mit solchen Planungen hoffnungslos überfordert.

Ganz unmittelbar notwendig ist es, eine wirkliche Planungsinstanz zu schaffen, die gemeinsame Kriterien für die Entwicklung von Berlin und Umland festlegt. Über die Bildung eines neuen Landes würde ich dann im Zusammenhang einer Debatte über Verwaltungsreform reden. Entscheidend ist, daß man sich jetzt nicht überrollen läßt vom Andrang der Investoren und daß man ihnen gegenüber nicht liebedienerisch ist. Sich unter Zeitdruck setzen zu lassen verhindert es, eine Stadtidee zu entwickeln und die Bürger selbst an diesen Planungsprozessen zu beteiligen. Denn das heißt auch immer, den friedlich organisierten Streit konkurrierender Interessen zuzulassen. Beteiligt werden sollten dabei nicht nur die Bürger Berlins und des Umlandes, sondern die Deutschen insgesamt — wenn es denn ihre gemeinsame Hauptstadt werden soll. Gerade um die Ängste vor Berlin zu beseitigen.

Und die Ängste der Berliner, zum Beispiel vor einer Explosion der Mieten?

Wir müssen nach Instrumenten suchen, um den ungesteuerten Prozeß zu zähmen: Dazu gehören sowohl finanzielle Förderung als auch Obergrenzen für Mieten und obligatorische Auflagen bei Investitionsentscheidungen. Im Innenstadtbereich zum Beispiel Auflagen über Wohnungen und Räume für Kultur, die mitgebaut werden müssen. Wir müssen erreichen, daß auch Gewerbemieten nicht mehr nur Angebot und Nachfrage unterliegen. Sonst wird es im Innenstadtbereich sehr gefährlich für Handwerker, für kleinere und mittlere Betriebe.

Glauben Sie, man kann die Struktur der Innenstadt wirklich bewahren?

Die Konflikte haben schon begonnen, die Idylle des ehemaligen Ost-Berlins gibt es nicht mehr. Es war ja auch eine „grimmige Idylle“. Aber was man erhalten kann, ist die soziale Mischung, zum Beispiel in Prenzlauer Berg. Soziale Segregation wie in vielen westdeutschen Städten und auch West-Berlin müssen wir verhindern.

Und wie stellen Sie sich die Bürgerbeteiligung bei der Planung vor?

Nichts wäre schlimmer, als wenn die Berliner in ihrer Euphorie nach der Entscheidung gigantomanisch werden wollten. Wir müssen es fertigbringen, daß die Hauptstadt auf eine so demokratische Art und Weise gestaltet wird, daß die anderen sehen: Das ist nicht mehr die alte Berliner Großmannssucht, sondern der nüchterne Blick. Berlin muß sich selber als Hauptstadt demokratisch planen. In die Vorbereitung der Entscheidungen sollten die Bezirksverordnetenversammlungen der betroffenen Bezirke und auch Bürgerforen einbezogen werden — einschließlich der sogenannten „Randgruppen“, der Ausländer oder auch radikalerer Gruppierungen aus Kreuzberg und Prenzlauer Berg. Wenn man die nicht beteiligt, dann werden die Ängste vor der Hauptstadt nur bestätigt und nicht abgebaut. Michael Rediske