Viel Schöner Scheitern

■ Die Berliner »Beautiful Losing«-Künstlergruppe »Agentur für Systemmanagement« über ihre jüngsten und inferiorsten Gedanken und Erfahrungen

Am vorletzten Wochenende wurde die immer schon zum Scheitern verurteilte Berliner »Agentur für Systemmanagment«, die quasi nichts anderes ist als die nun fast schon zu erfolgreich gewordene Künstlergruppe »Bismac Media«, wieder einmal von einer Weiterbildungsmesse verwiesen. Diesmal von der im PDS-Haus am Köllnischen Park. Zugegeben: Sie wollten dort werben, ohne Standmiete zu bezahlen. Aber egal: Alle ihre Argumente für die dringende Präsenz der Agentur, die sich auf die Erforschung, Verbesserung und Anerkennung des Scheiterns spezialisiert hatte, zogen bei den Veranstaltern nicht. Denn überall wird jetzt in der DDR auf Fortbildung, Umschulung, Weiterqualifizierung gesetzt, kurz: auf baldigen Aufschwung. Aber bereits eine einfache Rechnung macht klar, daß auf einen Gewinner neun Verlierer in den neuen Bundesländern kommen werden. Es ist also unumgänglich, daß neben einer optimistisch-karrieristischen Zukunftssicht vor allem das Scheitern, das Verlierenkönnen gelernt werden muß.

Ein Crash-Kurs der

Agentur für

Systemmanagement.

Gutes, elegantes Scheitern fällt einem nicht in den Schoß, es bedarf Können und harter Arbeit. Anläßlich einer Recherche über westdeutsche Obdachlosenasyle waren wir 1980 im Münsterländischen auf einen ehemaligen SED-Funktionär gestoßen, der uns auf die Frage, warum er denn jetzt im Westen ganz unten angekommen sei, geantwortet hatte: »Es ist wichtig und auch ganz schön, einfach nur mal zuzusehen... Man muß nicht auf jeden fahrenden Zug aufspringen.« Die Hohe Schule des Scheiterns. Er besaß sogar Visitenkarten — damals schon (vor 11 Jahren) und als Penner!

Auch wir hatten uns für unsere Systemmanagement-Agentur extra Visitenkarten, Briefpapier, Umschläge, Postkarten drucken lassen: den ganzen GmbH-Paraphernalien- Quatsch eben. Und dazu die entsprechende Literatur — zum Auslegen: Samuel Beckett: Mich interessiert nur das Scheitern! (und alle scheitern sie: Murphy, Malone, Wladimir, Hamm, Krapp etc.); Georges Simenon, der sich laut Bondy in all seinen Romanen »mit dem Gescheiterten identifizierte«; Dürrenmatt, dessen »Lebensstoff die Inszenierung des Scheiterns« war; sowie Franz Jung, der ewig mit dem Scheitern kokettierte (Der Weg nach unten) und Mickey-Mouse-Hefte.

Scheitern kann man überall. Das kann schon morgens mit dem 5-Minuten-Ei anfangen. Mit einer falschen Bemerkung am Telefon. Durch eine kleine Unaufmerksamkeit bei einem Treffen. Aber, um ein ganz Gescheiterter zu sein, bedarf es einer Reihe von Ereignissen und Umständen, die geeignet sind, einen Lebensplan zunichte zu machen; mit der Psychoanalyse zu reden: die »eine Idealvorstellung von psychischer Gesundheit« unerreichbar werden lassen. Die in Argentinien und zuletzt in Managua praktizierende Wiener Psychoanalytikerin Marie Langer erwähnt eine Gruppe von Kollegen in ihrer Vereinigung, die ein Ideal von psychischer Gesundheit verfolgten, »das darin besteht, viel und immer mehr zu verdienen, wahllos sexuelle Freiheit zu genießen, sich einer wohlerprobten Potenz zu erfreuen — und immer größere Autos zu kaufen.« Ein Kollege von ihr, Heinrich Racker, definierte dieses Modell psychischer Gesundheit als »hypomanisch«: »Auch wenn dieses Adjektiv aus der Psychopathologie im Widerspruch zu dem Substantiv ‘psychische Gesundheit‚ zu stehen scheint. Aber es ist ein an die Ideologie der Konsumgesellschaft angepaßtes Modell, ein Ausdruck der fortgeschrittenen kapitalistischen Entwicklung, die in den Ländern der ‘Ersten Welt‚ erreicht ist.« Für die Marxisten unter ihren Kollegen, so führte sie weiter aus, »weist die Notwendigkeit des Erfolgs auf die Existenz eines pathologischen Charakterzuges hin«. Das Ziel dieser Analytiker wird es deswegen sein, »den Patienten dahin zu bringen, diese Notwendigkeit zu verringern oder zu eliminieren«. Dies ist (bzw. war) auch Marie Langers Ziel, aber »ich will nicht meine Analysanden zur Militanz bekehren, ich stimme jedoch mit Paul Parin überein, daß die Erkennung der gesellschaftlichen Realität und ihrer Mechanismen einen Teil von dem ausmacht, was eine Analyse erreichen sollte.« Und dazu — d.h. zu einer »gelungenen Analyse« — gehört eben auch das Scheitern.

Umgekehrt formuliert: Ab einem bestimmten Quantum von Erfolg verhindert dieser sozusagen automatisch »die Erkennung der gesellschaftlichen Realität und ihrer Mechanismen«. Marxistische Philosophen sprechen vom »Klassencharakter der Erkenntnis«, und in der Zeitschrift 'Forbes‘ hat gerade Hubert Burda vor der deklassierten ML-Intelligenz der DDR gewarnt: Unter diesem — seinem — Gesichtswinkel wäre die Nicht-Abwicklung der ostdeutschen Universitäten ein Beitrag zur Verhinderung von Realitätswahrnehmung. Was hierbei aber eigentlich zur Debatte steht, ist das »Glück« — von dem schon Georg Forster einst meinte, es gehöre auf die Seite der Natur, weswegen der Staat sich auch nur und vor allem um die Würde zu kümmern hätte —, das Glück (des einzelnen) ginge ihn nichts an.

Der Sozialstaat heutzutage betreibt aber eine eigenartige Wackelpolitik zwischen Glück und Würde — z.B. bei den Obdachlosen. Zwar bekommen sie Geld, aber es ist demütigend wenig, zwar gibt es Asyle, aber sie sind immer mehr oder weniger menschenunwürdig. Diese ganzen Scheiß-Schlösser in und um Berlin z.B.: Warum gibt man sie nicht den Obdachlosen, anstatt sie samt Personal und brennenden Kaminen für Bundespräsidenten, -kanzler, Staatsgäste, -literaten etc. leer zu halten? Natürlich deswegen, weil in dem Fall die Obdachlosigkeit zu einer erstrebenswerten Perspektive werden würde — und das darf, gesellschaftlich gesehen, nicht sein. Das Bruttosozialprodukt braucht eher Häuslebauer. Anders ausgedrückt: Von Staats wegen darf man das Scheitern nicht allzusehr versüßen (die Fischdosen-Aschenbecher im Arbeitsamt seien an dieser Stelle dazu erwähnt). Eher müssen die um Erfolg Ringenden unterstützt werden.

Im Spiegel wurden neulich drei DDR-Jungunternehmer gefragt: »Wer hindert sie, erfolgreich zu sein?«

A: Wir müssen uns durchsetzen in einer Volkswirtschaft, die zu 80% aus subventionierten Treuhand-Unternehmen besteht. Wir versuchen paddelnd und rudernd zu kämpfen — gegen die Treuhand...

B: ... gegen den alten Staatsapparat...

C: ... gegen die Wessis, die uns vom Markt schieben wollen...

B: ... und müssen uns nebenbei konzentrieren auf neue Steuergesetze, auf neue Rohstoffe, neue Kalkulationen...

C: ... und sollen zeitgleich einen schlagkräftigen Vertrieb aufbauen, den wir bisher nicht hatten.

A: Viele Existenzgründer wissen bis heute nicht, was es bedeutet, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Die sind in unproduktive Bereiche reingegangen, wie Imbißbuden und Videotheken. Das alles ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt.

Auch in ihrem »produktiven Bereich« werden die drei aus Leipzig früher oder später von den »Multis«, im Verbund mit CDU/SPD, zum Scheitern »verurteilt« werden — und zwar so, wie es aussieht: gerade in der DDR. Aber das macht überhaupt nichts! Denn wenn solche Leute wirklich den Marxismus mit dem Amerikanismus vertauschen wollen, dann lautet ihr Credo: »Scheitern, es wieder versuchen, scheitern, nochmal versuchen, wieder scheitern, scheitern, scheitern und nochmal scheitern, doch niemals unterliegen oder gar aufgeben!«

Das ist die Donaldistische Losung. Anders ausgedrückt — mit den Worten des Ehrenmitglieds der deutschen Sektion der Donaldisten: »Der echte, originäre Donaldismus hat als wichtigstes das Moment des Scheiterns in sich, und das ist keine Interpretation, sondern das ist eben der Inhalt der Donald-Duck-Geschichten: das allen Geschichten immanente Moment des Scheiterns ist ihnen wesentlich!« (1984, auf dem letzten Berliner Kongreß der deutschen Sektion wurden übrigens mit Hilfe einer UFA-Windmaschine und Tausenden von gasgefüllten Luftballons »Aufrufe zur Gründung Donaldistischer Zirkel und Zellen« auf das Territorium der DDR losgelassen, wovon wahrscheinlich in der Gauck-Behörde noch ein Stasi-Dossier zeugt — das aber nur nebenbei!)

Dieses Credo gilt nicht nur für Donald Duck, der in jeder Geschichte einen neuen Beruf bzw. mit einem neuen »Projekt« aufs neue scheitert, sondern auch für seinen Zeichner, Carl Barx, selbst, der Hühnerzüchter, Holzfäller, Vertreter, alles mögliche war, bis er als Zeichner bei Walt Disney landete. Wie überhaupt jeder Amerikaner durchschnittlich zehn verschiedene Jobs in seinem Leben ausübt. Hierzulande redet man nur im Zusammenhang von sogenannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), die es übrigens schon seit der gescheiterten Juli-Revolution (1830) gibt. Ansonsten verfolgt man nach wie vor solide »Berufsziele« und sogar dieser ganze Lehrlings-Ausbildungsquatsch hat jetzt wieder eine Renaissance erfahren. Des ungeachtet ging die Donaldisierung der DDR nach der gescheiterten »friedlichen Revolution« folgendermaßen vor sich: Zuerst kauften sich alle einen größeren Wagen — es fand geradezu eine »Kollektiv-Verschuldung« statt, dann verdingten sich die meisten als Versicherungsvertreter — zuerst nur auf dem sogenannten »warmen Markt« (das sind die Kreise, die durch Verwandtschaft bzw. persönliche Beziehungen abgedeckt werden), und jetzt versucht jeder ABM-Jobs bzw. Umschulungsmaßnahmen zu ergattern.

Dies ist der Punkt, wo unsere Systemmanagement-Agentur greifen soll: Die Fortbildungsfirmen bieten meist sogenannte »Baukastensysteme« an. Und in diese Karriere-Planungskonzeptionen gehört einfach ein Kursus übers »Scheitern« — mindestens einer! Wenn wir von dem noch durchaus seltenen Fall ausgehen, daß ein solches Baukastensystem die mit der DDR kollektiv Gescheitern nicht noch mehr runterholt. Generell läßt sich sagen: Die BRD- Rechten wickeln ab und die BRD- Linken schulen um (da kommt auf dieser Seite immer noch das alte Avantgarde- und Besserwissen-Denken zum Tragen!). Erwähnt seien nur Knödler-Buntes Fortbildungskurse (im ehemaligen FDGB-Haus), in dem z.B. auch ein Alternativzeitungsgründer den DDRlern jetzt verrät, wie sie, so erfolgreich wie er, mit 33 ihren ersten Herzinfarkt bekommen können. Und das ist ja auch eine feine Sache, wenn man bedenkt, daß die Alternative dazu darin besteht, mit 55 und bei blühender Gesundheit völlig erfolglos in irgendeinem ehrlichen, blöden Brotberuf hängengeblieben zu sein.

Noch ein Beispiel aus der wunderbaren Welt der Medien. Eine TalkShow mit fünf Karrierefrauen, in der sie darüber redeten, ob ihnen die Männer im Wege stünden oder doch sie eher sich selbst oder beides zugleich? Also, die bereits erwähnte 'Spiegel‘-Frage: »Wer oder was hindert Sie, erfolgreich zu sein?« wurde dort ebenfalls zu beantworten versucht, d.h. ein von Marie Langer sogenanntes »an die Ideologie der Konsumgesellschaft angepaßtes Modell« diskutiert. Nicht ein einziges Mal wurde der »Erfolg« selbst in Frage gestellt, oder die Notwendigkeit des Scheiterns in Betracht gezogen. Da es sich bei einer der Anwesenden um eine ehemalige Gewerkschafts-Journalistin handelt, hätte ich das — aus den erwähnten erkenntnistheoretischen Gründen — eigentlich erwartet.

Schade. Denn das »Scheitern bestimmt sich ja aus dem Gegensatz zu den konventionellen Erfolgslügen. Also Macht, Wichtigkeit, Einfluß, Namen, Prominenz...« (H.D. Heilmann). Der Ehrenvorsitzende der Donaldisten, Gernot Kunze, fügt hinzu: »Das sind alles Ziele, die von Donald auch angestrebt werden, an denen er aber immer wieder scheitert. Ein permanentes Scheitern — wie bei Trotzki. Viele Donald-Geschichten drehen sich darum, wie er berühmt werden will, ohne Umweg über Arbeit, Leistung etc. Meistens versucht er das dann über die Teilnahme an Talk-Shows oder noch besser über Prominenten-Quizsendungen, auch fragt er gerne ihrgendwelche Filmstars, wie sie entdeckt worden sind. Filmrollen sind ihm eigentlich unwichtig, es geht ihm vor allem darum, berühmt zu werden, in allen Gazetten auf dem Titelbild zu sein...«

Meistens wird Donald dabei entweder vom reichen Dagobert oder vom glücklichen Gustav Gans aus dem Feld geschlagen oder aber er erreicht tatsächlich sein Ziel — dann sieht es jedoch so dermaßen anders aus, als er es sich die ganze Zeit vorgestellt hat, daß es einem Scheitern gleichkommt. Was ist nun mit dem Analyseziel, die »Notwendigkeit des Erfolgs zu verringern bzw. zu eliminieren«?

Bei den oben erwähnten fünf Dagobert-Lindlau-Veranda-Frauen sehen wir in dieser Hinsicht schwarz, aber der durchschnittliche DDRler, auch wenn er von seinen Verlagen mit Biographien und Büchern Gescheiterter nicht gerade verwöhnt worden ist, hat aufgrund seiner jetzigen »Geworfenheit« gute Karten. Er befindet sich nämlich in der von der Chicagoer Schule sogenannten »Marginal Man«-Position, die sowohl zur Erkenntnis der Realität als auch für Erfolg und Scheitern gleichermaßen optimal sind. Sie ist nahezu identisch mit der jüdischen Juxtaposition: »innerhalb und außerhalb der Dinge zugleich sein« (Adorno), und auch noch mit einer nostalgisch-moralischen wie der kommunistischen behaftet: internationalistisch denken, sowie gezwungenermaßen homosexuell: das Begehren nomadisieren lassen (viele verzetteln sich, verkrallen sich alle paar Monate in einen neuen Lebensplan) und zigeunerisch: aus dem Aufbruch etwas so einfaches wie Geborenwerden oder Sterben machen! All diese Positionen wurden übrigens im Zusammenhang der »demographischen Ideologie der Nazis« (Hannah Arendt) in KZs zu eliminieren versucht, das aber nur am Rande. Obwohl es eine Vorstellung ist, daß man ein Volk von staatskonformen, heterosexuellen, arischen Deutschen nur lange genug in ein Lager wie die DDR einzusperren braucht, um am Ende lauter »Marginal Men« (bzw. Women) herauszubekommen (1). Es ist aber wahrscheinlich zu optimistisch gesehen, denn erst einmal sind alle furchtbar unglücklich, viele wollen »ihren Sozialismus« wieder haben, und allzu viele klammern sich noch an Mini-Territorien, all die plötzlich erhaltenswerten Institutionen, Betriebe... die ganzen Kulturzentren schon alleine... Wer soll diese ganzen wunderbaren Häuser, Schlösser, Einrichtungen jemals bespielen — und womit? Und was will man dem Publikum damit sagen, wenn in zwölf Ostberliner Theatern Dürrenmatt bzw. Beckett gespielt wird? Läuft so etwas nicht — verbrämt — auf dasselbe hinaus wie unsere Systemmanagement-Agentur »Beautiful Losing«? — Das wollten wir hiermit nur mal zur Diskussion stellen: das Scheitern als ABM!

1) Man könnte auch von einer kollektiven Indianier-Werdung sprechen: Der 'Verriß‘-Herausgeber Mathias Wedel sprach neulich ganzseitig im 'Freitag‘ davon, daß die DDRler sich über den Rohwedder-Mord mehr als heimlich gefreut hätten. Seine verantwortungslose Ehrlichkeit bzw. Realitätswahrnehmung wurde zwar von Udo Knapp über Bölling bis Burda gegeißelt, aber in diesem gesamtdeutschen Sommer fand sich kein westdeutsches Gericht mehr, daß die »klammheimliche Freude« — so wie seinerzeit im »Deutschen Herbst« von den Göttinger Mescaleros geäußert — zu einem Staatsverbrechen hochstilisierte. Gerade, daß man sich noch dazu aufraffen konnte, dem lauesten aller lauen Bürgerrechtler der DDR, Konrad Weiß, die Martin-Schleyer- Medaille ans Revers zu heften. Ich will damit sagen, wenn vier Indianer sagen, was Sache ist, gibt es Senge, aber wenn einige Millionen sich freuen, tut man besser so, als wäre nichts gewesen. Im übrigen gilt auch für die nordamerikanischen Indianer, soweit sie nach wie vor in ihren angestammten Territorien verblieben sind, daß sie sämtlichst von der Wohlfahrt leben — das ist fast noch eleganter als Umschulung.