Polnische Politiker stehen in den Startlöchern

Hinter dem Streit über das Wahlgesetz verbirgt sich die Frage: Präsidialsystem oder parlamentarische Demokratie?  ■ Aus Warschau K. Bachmann

„Auch eine Beschleunigung kann man noch beschleunigen“, so erklärte Walesas Staatsminister Slawomir Siwek der Presse, was zur Zeit zwischen der Warschauer Präsidentenkanzlei und dem Parlament vor sich geht. „Beschleunigung“, das war einmal Walesas Wahlkampfslogan, mit dem er dann auch Präsident wurde, „Beschleunigung“, das ist auch das Lieblingswort der „Zentrumsvereinigung“, jener Partei, die Walesa als erste aufs Schild hob. Darunter zu verstehen hat man nach den Worten der Parteiführer eine schnelle und effektive Abrechung mit jenen Ex-Kommunisten, die sich an der Wende in Polen unverdient bereichert haben, eine schnellere Privatisierung, mehr Law and order auf den Straßen und— seit neuestem — schnelle Neuwahlen und Abrechnung mit dem Parlament. Das nämlich entstammt dem „Kontrakt vom Runden Tisch“, und der gilt bei den Zentrumsanhängern als Schnee von gestern, der vom Tisch muß. Andererseits hat jedoch das Zentrum, im Frühling noch dynamischste Partei Polens, inzwischen stark an Wählergunst verloren. Bei Neuwahlen stehen ihm nach Umfragen nicht mehr als 8 Prozent ins Haus. Profilierung ist angesagt. Besonders hervorgetan haben sich da bisher Jaroslaw Kaczynski, Chef des Zentrums und zugleich Staatsminister Walesas, und Bieleckis Bauminister Adam Glapinski. Der trat auch prompt mit Kaczynski auf einer Pressekonferenz auf und forderte mehr Minister aus seiner Partei fürs Kabinett. Plötzlich möchte das Zentrum, das sich im Frühling noch von der Regierung Bielecki distanziert hatte, „mehr Verantwortung“ in dieser Regierung übernehmen.

Premier Bielecki ist auf die Eskapaden seines Ministers nicht allzu gut zu sprechen. Auf einer Kabinettssitzung rief er ihn vor versammelter Mannschaft zur Ordnung. Unterderhand läßt er wenig Zweifel daran, daß er den ehrgeizigen Mittvierziger für einen Demagogen hält. Bielecki steht unter Dauerdruck. Kurz vor seiner Reise nach Deutschland frühstückte er mit Walesa. Einen Tag später erfuhr er dann nicht nur, daß Walesa für die Regierung Sondervollmachten (Dekrete) wünscht, dessen Staatsminister Siwek erklärte der Presse auch noch, Bielecki unterstütze diese Idee, noch bevor Bielecki das selbst mitteilen konnte. Inzwischen hat die Regierung über den Vorschlag beraten, doch so richtig klar ist auch ihr nicht, was sich mit Sondervollmachten in der Wirtschaftspolitik erreichen ließe.

Bielecki hat sich seine Unabhängigkeit bisher durch den Verzicht auf politische Ambitionen einigermaßen bewahren können. Ohne eigene Fraktion im Parlament, stützte er sich auf die Gewerkschaft Solidarność und den Präsidenten. Solidarność hat sich inzwischen von ihm abgewandt, ihn beinahe sogar per Generalstreik gestürzt. Nur Walesa hält ihm noch einigermaßen den Rücken frei. Die Zentristen verhandeln mit Bieleckis Liberalen vor allem mit Hilfe des Ellbogens. Kaczynski attackiert als Parteimann die Regierung und erklärt gleichzeitig als Minister seine Übereinstimmung mit Walesa. Diese Persönlichkeitsspaltung ist inzwischen zu einem Lieblingsthema der Pressekonferenzen im Belvedere geworden. Im reinen ist der Minister mit sich nur, wenn es gegen das Parlament geht.

Das Wahlgesetz, das in den letzten Wochen Walesas Interventionen verursacht hat, ist inzwischen nur noch zum Vorwand für eine ganz andere Auseinandersetzung geraten. Vordergründig gestritten wird darum, ob der Wähler Personenpräferenzen auf dem Stimmzettel angeben darf oder muß und ob das Wahlkomitee dem Präsidenten oder dem Parlament unterstehen soll. Kaum jemand ist da in der Lage, überzeugend zu begründen, weshalb diese Differenzen wichtig genug sind, eine Verfassungskrise heraufzubeschwören. Tatsächlich, so erklären es Abgeordnete, die nicht unmittelbar in den Zwist verwickelt sind, gehe es um zwei grundlegend verschiedene Konzeptionen der polnischen Demokratie, die am Vorwand Wahlgesetz durchexerziert würden: Präsidialsystem kontra parlamentarische Demokratie. So wird aus Walesas Veto der schlichte Versuch, dem Parlament seinen Willen aufzuzwingen. Nur er, so betont Polens Präsident stets, sei als einzige Institution durch völlig freie und demokratische Wahlen legitimiert. Eine entscheidende Rolle spielt natürlich auch der beginnende Wahlkampf. Die Wahlen werden, ganz gleich, wie der Streit ausgeht, auf jeden Fall zu einem in -zig Parteien zersplitterten Parlament führen. Denn auch Walesas Einwände betreffen das Grundmanko, das Proportionalwahlrecht nicht. Das Wahlrecht wurde vom Sejm gemacht und darin sitzen Parteien, von denen die meisten kaum eine Chance haben werden, die Zehnprozentmarke zu überschreiten. An einem Mehrheitswahlrecht kann ihnen nicht gelegen sein. Walesa hat den Versuch, ein entsprechendes Wahlgesetz durchzudrücken, schon vor längerer Zeit aufgegeben. Von daher wird sich die Frage Präsidialsystem oder parlamentarische Demokratie von selbst zugunsten des ersten entscheiden — dadurch, daß das künftige Parlament kaum klare und stabile Mehrheiten zustande bringen wird. Also wird Polen wieder eine Regierung von Walesas Gnaden ins Haus stehen, mit oder ohne Sondervollmachten.

Einer der wenigen, der dem allem gelassen entgegensieht, ist Premier Bielecki, der sich nie vorgedrängt hat, Premier zu werden, und der ohne Verbitterung gehen wird, wenn es soweit ist. Er habe seinen Posten angetreten, um einiges unter Dach und Fach zu bringen. Kurz vor den Wahlen verordnete er dem Land gleich zwei schmerzhafte, aber notwendige Radikalkuren, vor der jeder andere zurückgeschreckt wäre: eine Rentenreform und eine Reform des Gesundheitswesens, mit der die meisten Produktionszuschüsse für Medikamente abgeschafft werden sollen. Daß ihn das nicht beliebter gemacht hat, weiß Bielecki. Aber er will den Wahlkampf im Herbst auch nicht gewinnen. Seine Partei, der „Liberaldemokratische Kongreß“, ist eine elitäre Veranstaltung ohne Massenanhang, er selbst sieht sich lieber als Banker denn als Politiker. Von allen Verlierern des anstehenden Wahlkampfes wird er wahrscheinlich die beste Figur abgeben.