Die spröde Schöne

■ Händels „Alcina“ in Antwerpen

Die Flandrische Oper ist derzeit eines der Lieblingskinder der internationalen Presse. Und nicht einmal zu Unrecht. Auch die neueste Produktion ist sehens-, vor allem hörenswert: Alcina von Georg Friedrich Händel, eine der gelungensten, variantenreichsten Opern des notorischen Vielschreibers, deren Textbuch sich der Komponist 1735 nach einem sieben Jahre zuvor von Ricardo Broschi in Rom herausgebrachten Stück, L'Isola d'Alcina, wohl selbst arrangierte, um durch Bühnenzauber, Ausstattungsaufwand und eine nicht enden wollende Kette von 42 Arien der Konkurrenz in London Paroli zu bieten.

Händels Alcina war zunächst in Covent Garden erfolgreich, wurde sogar — damals eine Seltenheit — nach Braunschweig exportiert. Dann aber verschwand das Werk für 200 Jahre in der Versenkung. Selbst die Händel-Renaissance im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ging an ihm zunächst vorüber.

Den „Durchbruch“ in neuerer Zeit erzielte die Oper 1960 in Venedig: Franco Zeffirelli verlegte die von Händel auf einer fernen Trauminsel angesiedelte Story in einen barocken Palazzo. An dieses Vorbild knüpfte auch die Antwerpener Inszenierung von Philippe Berling an, gestützt auf ein gründlich regeneriertes Orchester und ein überwiegend junges Sängerensemble. Da tat sich auf der relativ kleinen Bühne des wunderschönen Theaters am Frankrijklei der Einblick in eine leicht verstörte Schloßsphäre auf: Eine schräg gesetzte Freitreppe führt auf ein Gemäuer zu, das recht deutlich an das Dresdner Schloß (in seinem gegenwärtigen Zustand) erinnert; leer gähnen die Fenster- und Türöffnungen. Allein am Licht und dem diskreten Hintergrund liegt es, ob der umschlossene Raum als Winkel des Schloßparks oder als Innenraum unter freiem Himmel wirkt. Unter den Backsteinmauern, zwischen welkem Laub, liegt der Putz.

In diese gealterte Welt des einst wohl blühenden Barocks verschlägt es die als Ritter verkleidete Bradamante auf der Suche nach ihrem Verlobten Ruggiero, der in die Fänge der mit übernatürlichen Kräften begabten Alcina geraten ist (und offensichtlich sein Gedächtnis verlor — aber so ist das wohl im Stadium der verhexenden frischen Liebe). Die verwickelte Geschichte erfährt in Antwerpen keine psychoanalytisch ambitionierte Ausdeutung. Es wird, als könnte das alles hier und jetzt im wirklichen Leben passieren, frisch gesungen und munter musiziert. Die von Alcina in wilde Tiere oder domestizierte Pflanzen verwandelten früheren Liebhaber erschienen als streng beschnittene Buchsbäume oder in Gestalt des Bären, der sich am bescheidenen Ballett beteiligt. Händels Musik zeigt kompositorische Höhe und strebt nach tieferem Ausdruck in jenen Augenblicken, in denen Alcina des von ihr fliehenden Glücks gewahr wird. Mit der in barocker Breite erfolgenden Darstellung solcher Gefühle steigerte sich Daniela Lojarra in der Titelpartie — Ann Monoyios als liebestolle Schwester der Alcina war von Anfang an enorm präsent, entlockte selbst spröden Partien erstaunlichen Liebreiz.

Ein namhafter „Barockmusik- Spezialist“ sollte ursprünglich für die Vlaamse Opera den Sound in jene Richtung trimmen, in der heute die „originale Klanggestalt“ vermutet wird. Da er jedoch nur mit einer teuren Instrumentalgruppe aus Köln antreten und nicht mit dem hauseigenen Orchester arbeiten wollte, kam Jos van Immerseel als Dirigent zum Zuge. Der von ihm verantwortete Mangel an Historismus tat dem Unternehmen keinen Abbruch: Gegenüber dem dünnen Klang des Solisten- Septetts, das in Amsterdam zur Kounellis-Installation Monteverdis Il combattimento di Tancredi e Clorinda begleitet, im Kontrast vor allem zur mißratenen Modernisierung der Brüsseler Poppea-Musik wirkt der dynamisch differenzierte und vollere Streicherklang in Antwerpen wie eine Wohltat. Frieder Reininghaus