Erneut Bedenkliches

■ Urräh aus dem wilden Osten

Ende der dreißiger Jahre hielten es die Deutschen plötzlich nicht mehr aus zu Hause; sie wollten unbedingt fremde Länder sehen. Polen, Frankreich, Holland, Norwegen öffneten sich den staunenden Touristen, weiter im Süden wartete Griechenland, und wen es nach noch mehr Sonne gelüstete, den zog es gleich nach Afrika.

Vom dunklen Drang nach Osten singt uns Spätlingen nun ein fröhlicher Fahrensmann, ach was, ein neuer rilkescher Cornet, erzählt den Nachgeborenen auf wenigen kostbaren Blättern, wie es seinerzeit war am Bug, in den Pripjet-Sümpfen und im Kessel von Bialystok. Und die Tiefdruckbeilage der 'FAZ‘ druckt diese Erinnerungen als Beitrag zum 50. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion.

Der Name des Dichters, der sich hier zum ersten Mal vorwagt, lautet Adelbert Weinstein. Wenn er bisher in den einschlägigen Nachschlagewerken fehlt, so ist das vor allem auf die übergroße Bescheidenheit des seit 1941 erheblich gereiften Autors zurückzuführen, der erst jetzt, fünf Jahrzehnte nach seinem Erlebnisurlaub in Osteuropa, mit seinen Impressionen aus dem isolierten Blickwinkel eines Kompanieführers hervortritt.

Erfolgreich hat er bisher das Licht der Öffentlichkeit gemieden, sich den Zudringlichkeiten des Betriebs entzogen. Das so viel versprechende Talent, ein Frankfurter Pessoa, tauchte nach dem Krieg unter und überlebte als Militärexperte bei der 'Frankfurter Allgemeinen‘. Widerstrebend nur ließ sich das scheue Genie als Reporter an jeden Punkt der Erde schicken, wenn sich dort nur von weitem ein militärischer Konflikt abzeichnete, war ständig Beobachter im „pazifischen Kriegstheater“, und ganz gegen seine Natur flog der Poet in amerikanischen Flugzeugen mit, um über Bombardierung und Entlaubung Nordvietnams zu berichten.

Wenn denn in Zukunft von deutscher Literatur die Rede sein soll, wird jedenfalls der Name Adelbert Weinstein nicht mehr fehlen dürfen. Wie kein zweiter verfügt dieser Autor über Präzision und atmosphärische Dichte: Um drei Uhr morgens am 22. Juni schleichen wir in Gruppen lautlos an den Waldrand. Der Bug gluckert. Sein blaugrünes Band ist schon zu erkennen. Lyrische Landschaftsschilderungen (Russische Geschütze, verlassene Lastwagen und ausgebrannte Panzer säumten die sogenannte Panzerrollbahn. Sie zog sich durch satte Wälder, über gemächliche Höhenrücken und blühende Felder) wechseln mit unerhört männlicher Lakonie („Na, wenn das man gutgeht“).

Man meint das Blut und den Schweiß (gewiß keine Tränen) förmlich zu riechen, wenn Adelbert Weinstein, dieser nicht genug zu preisende Meister des „mot juste“, alle Leidenschaft in diese marmorkühlen zwölf Wörter preßt: Die Truppe kannte nur ein Ziel: Durchbruch, Verfolgung und Stoß auf Moskau. Kein Jünger hätte der Stoßkraft jener Jahre konzentrierteren Ausdruck geben können: Die Walze der Granaten zerfetzt systematisch die Landschaft. Und dann kommen die Stukas. Der Gott, den wir heute so schmerzlich missen, bei Weinstein ist er auf subtile Weise anwesend: Nur der Himmel gehörte einer Partei allein: dem Jagdgeschwader Mölders.

Bei all seiner unvergleichlichen Härte verliert Weinstein nicht den Blick für die Idylle. Die Silhouette der Zitadelle von Brest-Litowsk stand wie gemeißelt vor uns, wie dieser legitime Erbe der Deutschordensritter fein beobachtet. Das zertrümmerte Warschau ist aufgeräumt, als der Kompanieführer der „8.“, als der sich der junge Dichter in jener dunklen Zeit tarnen mußte, die Stadt erreicht. Hier hat eine polnische Gräfin die Reste ihres ausgebombten Hauses zu einer Art Offiziersheim umgebaut und empfängt liebe Gäste von außerhalb, Kulturreisende wie unsern Weinstein. Als man sich trennt, wird von der Gräfin Abschied wie von einer Gastgeberin genommen, den Damen, es sind leibhaftige Damen der polnischen Gesellschaft, auch wenn sie inzwischen nur mehr dazu taugen, den Kaffee und die Schokolade aufzutragen, wird die Hand geküßt.

Rilkes kategorischer Infinitiv („Reiten, reiten, reiten“) weicht bei Weinstein einem erlebten Präsens Indikativ: Politisch sind wir alle Kinder. Widerstand leisten? Auf die Idee kommt keiner. Schließlich sind wir Soldaten und haben einen Eid geschworen. Und außerdem, drüben steht der Feind, von drüben kommt das durchdringende Urräh der sibirischen Truppen Timoschenkos. Als der Urlaub dann an Abenteuerqualität noch gewinnt, Weinstein ist verwundet, die Offensive ins Stocken geraten, weil „er“, der ferne, dem Soldatischem entrückte Führer in Berlin, in der Strategie versagt, vermag unser Dichter auch dem noch einen menschlichen Aspekt abzugewinnen: Die Diakonissen pflegen uns rührend. Das Entsetzliche, der Zweite Weltkrieg, wird Ereignis in minuziösen Bebachtungen, die ein Brief von damals festhält: Oberleutnant Seidel verwundet. Oberleutnant Baatz vom Regimentsstab zum fünftenmal verwundet. Der Arm von Leutnant Haubold bleibt steif. Mir selbst geht es langsam besser...

Gute Besserung möchte man aber auch der 'FAZ' wünschen und dem einen oder andern Leutnant dort einen steifen Arm. Willi Winkler