INTERVIEW: „Die Frauen geraten wieder in die Hände von Scharlatanen“
■ In den USA spitzt sich der Streit um Abtreibungsfreiheit zu/ June Eichner, Leiterin einer Klinik, zu den Konsequenzen für ihre Arbeit
Für viele Frauen ist es ein Déjà-vu-Erlebnis oder schlimmer noch ein Rollback: Die Debatte um das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung — und damit auch das Recht, unabhängig über einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden, ist nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen Ländern neu aufgelegt — auch in den USA. Dort allerdings wird der Konflikt ungleich schärfer ausgetragen — sowohl auf der Straße und vor den Kliniken als auch vor den Gerichten. Im Mai untersagte der Supreme Court in einem Gerichtsurteil den MitarbeiterInnen von staatlich finanzierten Kliniken zur Familienplanung, Patientinnen überhaupt über die Möglichkeit der Abtreibung zu informieren. Die taz sprach mit June Eichner, medizinische Leiterin der „Washingon Free Clinic“, über die Folgen dieses Urteils für ihre Arbeit. Die „Washington Free Clinic“ bietet hauptsächlich Schwangerschaftsberatungen an und wurde im letzten Jahr mit 30.000 Dollar aus Bundesmitteln gefördert.
taz: Wie wird das Urteil des Obersten Gerichtshofes Ihre Arbeit beeinflussen?
Eichner: Ich kann Ihnen erst einmal nur sagen, wie die Arbeit bislang gelaufen ist. Was nun nach dieser Gerichtsentscheidung passieren wird, weiß ich selbst nicht. Wenn Frauen zu uns kommen, machen wir zunächst einen Schwangerschaftstest. Fällt er positiv aus, dann fragen wir sie, wie sie zur Schwangerschaft steht. Wir lassen die Frauen das Thema Abtreibung selbst aufbringen. Das geht nicht von uns aus. Deshalb ist es auch so irrsinnig, jetzt von uns zu verlangen, daß wir den Frauen sagen: „Wir sehen Abtreibung nicht als Option an.“ Jede Frau, auch wenn sie aus dem entferntesten Winkel der Erde kommt, weiß, daß Abtreibung eine Option ist.
Wie weit haben Sie bisher einer Frau geholfen, die offensichtlich abtreiben will?
Wir haben eine Liste von Abtreibungskliniken, an die wir die Frauen verweisen können. Dies sind Kliniken, in denen nicht gepfuscht wird und die nicht übermäßig teuer sind. Wir stellen fest, in welcher Schwangerschaftswoche die Frauen sind, um so die Form der Abtreibung und die zu erwartenden Kosten festzulegen. Für unsere Patientinnen sind die 200 Dollar, die ein Abbruch mindestens kostet, sehr viel Geld. Wenn wir sie gleich in die richtige Klinik zur richtigen Zeit steuern, wird die Sache viel billiger.
Wie viele der schwangeren Frauen entscheiden sich für eine Abtreibung?
Etwa die Hälfte.
Welche Alternativen gäbe es für diese Frauen, wenn von der Regierung mitfinanzierte Kliniken wie die Ihre nicht mehr über Abtreibungen informieren?
Einige große Organisationen wie „Planned Parenthood“, die Schwangerschaftsberatungen billig oder umsonst anbieten, haben bereits bekanntgegeben, daß sie lieber auf die Regierungsgelder verzichten werden als sich einen Maulkorb aufsetzen lassen. Frauen können natürlich eine Abtreibungsklinik über das Telefonbuch auffindig machen. Dann laufen sie Gefahr, finanziell ausgenutzt zu werden oder in die Hände von Scharlatanen zu fallen. Die gibt es nämlich noch immer, obwohl Abtreibungen legal sind. Wir sind deshalb so wichtig für unsere Patientinnen, weil wir sie gründlich beraten. Wir haben viele Patientinnen, die aus Lateinamerika stammen und wissen wollen, wie Abtreibungen hier gemacht werden. Zum Teil denken sie, daß mit Kräutern oder Schlägen auf den Unterleib abgetrieben wird. Solche aufklärenden Gespräche verbietet nun die Gerichtsentscheidung. Uns Beraterinnen wird ein Maulkorb aufgesetzt. Ich kann meine Patientinnen nicht so beraten, wie es mein Wissen und Gewissen von mir verlangt. Außerdem beeinträchtigt es nachhaltig das Vertrauensverhältnis zwischen Patientinnen und uns.
Die Entscheidung zwingt Sie, Ihrem Berufsethos zuwiderzuhandeln?
Aber sicher. Die Entscheidung geht so weit, daß wir nicht mal dann, wenn Frauen durch die Schwangerschaft gesundheitlich gefährdet sind, Abtreibung als Option diskutieren dürfen. Das ist nicht vereinbar mit unserer Aufgabe im Gesundheitswesen. Außerdem ist offensichtlich, daß der Doppelstandard in unserem Gesundheitssystem noch verschärft wird. Jede Frau, die es sich leisten kann, zu einem Privatarzt zu gehen, hat die Möglichkeit, sich für eine Abtreibung zu entscheiden. Den armen Frauen, die zu uns kommen, soll diese legale Option verwehrt werden.
Ist das der Anfang vom Ende, was die Abtreibungsfreiheit angeht?
Wir sind alle entsetzt hier. Es ist gut möglich, daß weitere Urteile unsere Abtreibungsfreiheit weiter einschränken werden. Unsere Generation Frauen, die mit Abtreibungsfreiheit großgeworden ist, sollte sich bewußt werden, was in Gefahr ist, und lauter protestieren. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, daß der Kongreß die jetzt gefallene Entscheidung durch ein neues Gesetz aufhebt. Wir müssen uns davor hüten, erst dann aktiv zu werden, wenn alle Frauen, nicht nur unsere ärmeren Schwestern, betroffen sind. Das Gespräch führte: Silvia Sanides
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