Kroatien forciert den „historischen Akt“

■ Jugoslawiens zweitgrößte Republik will mit dem schnellen Vollzug der Souveränität mögliche Sanktionspläne sowohl der Zentralregierung als auch der Bundesarmee durchkreuzen

Nicht mal geflaggt wurde gestern in den beiden neuen Hauptstädten Zagreb und Ljubljana, als bekannt wurde, daß die nordjugoslawischen Republiken Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit bereits am Dienstag abend verkünden wollten. Dieser Schritt kam einen Tag früher als bisher angekündigt und überraschend. Denn über wichtige Gesetze, die Fragen der staatlichen Souveränität betreffen, wurde zumindest in Zagreb noch keine Einigung erzielt. Aber in beiden Hauptstädten sagte man sich, „für Detailfragen“ habe man noch Zeit. Wichtig sei das Bekenntnis zur Eigenstaatlichkeit. Und obwohl man es in den vergangenen Monaten sehr wohl verstanden hat, die Bürger für nationale Anliegen zu mobilisieren, hat man diesmal die Emotionen nicht angeheizt.

Fast schon unheimlich wirkte gestern in Zagreb die Ruhe und das alltägliche Treiben der Menschen, die von dem Staatsakt anscheinend ganz unberührt blieben. Auch in der Presse plötzlich ein Stimmungswechsel. Nun liest man in regierungsnahen Zeitungen, es werde ein eher „sanftes Auseinandergehen“ der Republiken angestrebt und nicht eine „dramatische Abkoppelung“. Die Souveränitätserklärung sei auch eher ein symbolischer Akt, um neue Zeichen zu setzen. Und man spricht viel von „razdruzivanje“, eine Art „Dissoziierung“ — ein einvernehmliches, sich über längere Zeit erstreckendes Auseinandergehen der einzelnen Teile Jugoslawiens.

Weshalb aber gestern diese politische Überstürzung? Weshalb die Vorverlegung der Staatsdeklaration? Darüber wurde gestern vielerorts gemunkelt. Sagten die einen, es sei ja sowieso einerlei, wann die Unabhängigkeitserklärung erfolge — zu Feierlichkeiten werde man ohnehin nicht ansetzen, da alle Nachbarstaaten und alle europäischen Staaten bereits im Vorfeld erklärten, dieser einseitige Schritt Kroatiens und Sloweniens werde völkerrechtlich überhaupt nicht anerkannt —, so meinten die anderen, man wollte mit dem „historischen Akt“ nicht zulange zögern und durch diesen Überraschungszug mögliche Sanktionspläne von Seiten der Bundesarmee und -Regierung zumindest fürs erste durchkreuzen. Jugoslawiens Ministerpräsident Ante Markovic könnte in der undurchsichtigen jugoslawischen Innenpolitik als indirekter Befehlshaber der Armee eine Rolle spielen. Schließlich hatte erst vor kurzem die Zeitung 'Borba‘, die der Regierung Markovic nahesteht, prophezeit, die Armeespitze sehe derzeit in dem Premier ihren Mann. Markovic ist aber wiederum der Mann, der im westlichen Ausland als Gesamtjugoslawischer Reformer weit mehr geschätzt wird als die neuen „Staatschefs“ Sloweniens und Kroatiens, Milan Kucan und Franjo Tudjman. Roland Hofwiler, Zagreb