Herausforderung HDTV

■ Zum „Electronic Cinema Festival“

Im Vertrauen gesagt: dieser Film ist ein Stück Scheiße.“ Diese drastische Formulierung fand der japanische Regisseur Nagisa Oshima zur Charakterisierung des Films In Praise of Shadows, der im vergangenen November in Tokio einen „Astrolabium Award“ in der Kategorie Filmdrama gewonnen hatte.

Diese Auszeichnung wird regelmäßig im Rahmen des „International Electronic Cinema Festival“ vergeben, ein Wettbewerb, der seit 1987 alternierend im schweizerischen Montreux und in Tokyo stattfindet. Zugelassen sind Filme, die in der Technologie des hochauflösenden Fernsehens (HDTV) mittels computergenerierter Bilder produziert sind. In der vergangenen Woche wurden die Preise wieder in Montreux verliehen und Nagisha Oshima gehörte — wie schon im letzten Jahr — zur Jury des Festivals.

Oshima vertrat im übrigen die Meinung, daß HDTV sich insbesondere für Experimentalfilme und Dokumentationen eignet, dagegen derzeit kaum für Spielfilme und Fernsehspiele. Eine ganze Reihe von Spielfilmregisseuren befassen sich dagegen scon seit einiger Zeit mit den Möglichkeiten der neuen Technologie. Fachleute attestieren dem neuen Fernsehsystem eine Bildauflösung, die mindestens 70 Prozent eines herkömmlichen 35-mm-Films erreicht. Weitere Vorteile liegen in der Postproduction für den Film: es entfällt das Kopierwerk; ein tendenziell digital aufgezeichnetes Bild auf einem standardisierten Datenspeicher macht jedes einzelne Bild fungibel für jegliche Art der Nachbearbeitung: digitale Effekte, Blue-Screen- Verfahren („Ultimatte“); digitale Retusche einzelner Bildelemente. Dies alles kann zu enormen Kosteneinsparungen im Bereich der Filmindustrie führen.

Ein Beispiel ist der für den „kreativen Umgang mit HDTV“ ausgezeichnete Film Journey with Hiroshige. Der berühmte japanische Landschaftsmaler Hiroshige (1797-1858) führt selbst durch seinen klassischen Bilderzyklus 53 Stationen des Tokaido: Ein Selbstporträt des Meisters und einige seiner Figuren, eingestanzt in die Farbholzschnitte, erläutern die Bilderreise von Edo (Tokyo) nach Kyoto. Überhaupt beherrscht der Rückgriff auf Werke der Malerei und der Grafik derzeit die HDTV-Produkte: Das prämierte französische Rockvideo Think about it verwendet Gemälde von Max Ernst, René Magritte und anderen Klassikern der Moderne, allerdings ohne dabei von der längst erprobten Videoclip-Ästhetik abzuweichen.

HDTV ist derzeit insbesondere eine Domäne der Videoclip- und der Werbespot-Produzenten. Vielfach aber lassen diese sich zu unsäglichen Montagen oder rasanten, computergenerierten Perspektivwechseln verführen, denen gegenüber das ARD- „Sport-Extra“-Logo mit dem herumwirbelnden Stadion geradezu ein optischer Ruhepol ist. Bei den vorgestellten Dokumentarfilmen war dagegen kaum zu erkennen, warum sie gerade in HDTV aufgenommen worden waren. Abgesehen vom breiteren Bild rechtfertigen sie aufgrund ihrer überaus konventionellen Machart kaum den Aufwand.

Wie bei jeder neuen Technologie befinden sich die Anwender derzeit in einer Experimentierphase. Ihr Problem ist, daß sie weitgehend aus der Fernsehbranche kommen und HDTV mit seinen Cinema-Scope- Breitenverhältnissen eine für Fernsehmacher neue Bildersprache verlangt: mehr Totalen, dadurch bedingt weniger Auflösungen der Szenen in einzelne Einstellungen, eine bis dato im Fernsehbereich unbekannte Akkuratesse, beispielsweise in Fragen der Tiefenschärfe und der Kamerafahrten. Hinzu kommt — wegen der Tonaufnahmen in CD- Qualität — eine neue Dramaturgie des Toneinsatzes, die bis heute nicht einmmal in Ansätzen diskutiert worden ist: wohin mit dem Stereoeffekt, wenn die Kamera zum Beispiel das links aufgestellte Piano eines großen Orchesters in Nahaufnahme zeigt?

Hier bieten sich Felder für Filmemacher, ihr Know-how in den neu entstehenden Wirtschaftszweig einzubringen. Das Business wird sie früher oder später dahin zwingen: schon jetzt sind die überall entstehenden Multiplex-Kinos der Hollywood-Großkonzerne Teil einer Strategie der Direktvermarktung der Filme via weltumspannender Satellitennetze. Und die brauchen das elektronische Ausgangsmaterial. Jürgen Bischoff