: Von der Nazi-Ästhetik fasziniert
Ein Gespräch mit Lars von Trier über seinen neuen Film „Europa“ ■ Von Gunter Göckenjan
Lars von Trier: Meine Filme waren bisher extrem mathematisch strukturiert. Ich wollte davon wegkommen und mit direkten Gefühlen arbeiten. Ich habe mir in diesem Film viele Dinge gestattet, die ich vorher nie getan hätte: Schnitt, Gegenschnitt oder den Geigeneinsatz, wenn sich die Liebenden treffen. All diese Sachen, die so angenehm sind wie Bonbons essen. Aber es ist nicht gut, zu viel davon zu essen. Trotzdem erlaube ich mir hier viele verbotene Freuden.
Gunter Göckenjan: In „Europa“ wird die melodramatische Hitze immer wieder durch die Bildtechnik (Rückprojektionen etc.) unterlaufen. Eine Abkühlung durch technische Selbstreflektion?
Einerseits möchte ich schon, daß man sieht: dies ist Kino! Andererseits gefällt es mir aber nicht, wenn das Abkühlung bedeutet. Tatsächlich verlange ich Unmögliches von den Zuschauern. Ich will, daß sie mir alles verzeihen. Eigentlich möchte ich, daß der Zuschauer das Spiel mit der Technik akzeptiert — in einem meiner ersten Filme konnte man immer die Kamera in einem Spiegel sehen — und trotzdem engagiert bleibt. Mein Ziel ist eine abstraktere Filmsprache, die starke Gefühle hervorruft.
Brechts Verfremdungseffekt?
Man könnte das so nennen, aber ich bin nicht daran interessiert, Leute zu belehren. Ich nutze Verfremdung auf eher dekorative Art und Weise.
Ich verwende sehr viel Arbeit auf neue Effekte und nehme ihnen dann den Hochglanz weg, mache das Licht ein bißchen zu dunkel oder das Material zu grobkörnig. Ich vertrete eine Theorie der kalkulierten Fehler: ein Versuch, immer gegen das Nahliegende und Einleuchtende zu arbeiten. Als Maler, der einen Tisch mit wunderschönem Blattgold überzöge, würde ich nachher mit Schmirgelpapier darüber gehen, um es zu vollenden. Twin Peaks von David Lynch gefällt mir nicht zuletzt auch, weil die Serie diesen Anschein einer locker dahin geworfenen Arbeit hat.
Läßt sich Spontanität zur Methode machen?
Das ist eines meiner Probleme: ich arbeite im Moment mit zu großem Bewußtsein. Wenn man älter wird, und ich fühle mich sehr alt, fängt man plötzlich an darüber nachzudenken, was man tut. Dies ist eine gefährliche Sache, ein bißchen so, als würde man auf einem Hochseil gehen und plötzlich aufwachen.
Was hat Sie aufgeweckt?
Um mich herum sterben die Leute, und ich habe jetzt eine Familie. Das Kind hat mich sehr verändert. Auf einmal entwickelte ich eine extreme Empfindsamkeit. Dagegen helfen zum Beispiel Arbeiten für's Fernsehen, weil diese Arbeiten nicht so wichtig sind; dadurch erhält man eine größere Freiheit. Lynch hat Twin Peaks fürs Fernsehen gemacht, wie auch Faßbinder Berlin Alexanderplatz, eine andere Revolution im Fernsehen. Beide probierten Dinge aus, die sie in einem Spielfilm nicht gemacht hätten.
Gibt es andere Regisseure, die Sie bewundern?
Eine der wenigen Ausnahmen ist Carl Dreyer. Zwischen jedem seiner Filme lagen 10 Jahre, und er hat nie irgendeine Modeströmung mit gemacht. In seinem ersten Tonfilm (Vampir) zum Beispiel wurde fast gar nicht gesprochen. Alle anderen Regisseure machten, sobald sie Ton verwenden konnten, Filme wie Sprechtheater. Bei Dreyer gab es nur drei oder vier Sätze und nur ein ganz kleines bißchen Musik. Ich schätze auch die frühen Filme von Tarkowskij.
Was halten Sie vom amerikanischen Kino?
Als ich jung war, war ich davon überzeugt, daß das europäische Kino die Welt retten würde. Ich finde das heute überhaupt nicht mehr. Ich habe nichts gegen amerikanische Filme, die meisten sind nur extrem langweilig. Der mit dem Wolf tanzt ist so ein Beispiel. Am liebsten sehe ich alte Filme wie Die Lady von Shanghai von Orson Welles, Mean Streets von Scorsese, Die durch die Hölle gehen von Cimino und Apocalypse Now, aber das ist eigentlich ein europäischer Film, er könnte von Herzog sein, nur mit einem amerikanischen Ende. Ein amerikanischer Film muß immer ein Ende haben.
Ihre Filme sind fasziniert von Untergang und Verfall...
Ich finde Patina und Ruinen wunderschön. Ich empfinde sie als eine Art anarchistischen Widerstand gegen die organisierte Schönheit. Wenn ich durch Deutschland fahre und diese scheußlichen modernen Städte sehe, wird mir immer wieder klar, daß ich lieber in Ruinen leben würde, als in dieser sterilen Ordnung.
Sind Sie Pessimist?
Sind meine Filme pessimistisch? Die Leute sagen, meine Filme seien Alpträume, aber Alpträume enthalten immer faszinierende Elemente, zumindest Bilder, an die man sich erinnert. Ich bin Optimist. Ich habe keine Angst vor dem Verfall der Zivilisation. Ich sähe es nicht als Katastrophe, wenn das menschliche Leben von der Erde verschwände, das wäre nicht das Ende der Welt. Ich hege keine romantischen Gefühle für die Menschheit. Natürlich habe ich Angst um mich selbst: Wenn es plötzlich keine Krankenhäuser mehr gäbe, wäre ich entsetzt. Ich bin sehr neurotisch.
Warum heißt der Film „Europa“, er spielt schließlich in Deutschland, wie auch die beiden anderen Filme Ihrer Trilogie, „Element of Crime“ und „Epidemic“?
Er reflektiert, wie ein abstraktes Gemälde, eine Stimmung, die dem Europa in meinem Kopf entspricht.
...und dem Deutschland in ihrem Kopf?
Sicher. Man macht sich doch auch immer lustig über sein Nachbarland. Hier in Dänemark gelten die Schweden zum Beispiel als besonders dumm. Das negativste Image haben die Deutschen. In meiner Generation hat das gar nichts mehr mit dem Krieg zu tun, sondern viel eher mit der ökonomischen Kraft Deutschlands. Für einen Dänen ist die Bewaffnung der Polizei ein Beweis für allzu autoritäre Strukturen. In Dänemark tragen Polizisten keine Waffen.
Manchmal habe ich genug von Deutschland. Als wir in Köln Epidemic gedreht haben, haben wir unser Auto auf dem Bürgersteig geparkt. Der Kameramann hatte sehr lange Haare, er sieht nicht besonders europäisch aus, ein bißchen wie ein Zigeuner. Ich saß vorne im Auto und probierte verschiedene Sonnenbrillen für meine Rolle in dem Film. Was wir nicht wußten, war, daß wir vor einer Bank standen und eine Überwachungskamera hat das alles aufgezeichnet. Plötzlich, wir wollten gerade weiterfahren, stellten wir fest, daß die Straße von Polizisten abgesperrt war, alles grün, überall Mannschaftswagen. Wir waren umstellt von sehr jungen Polizisten, die ihre Maschinengewehre auf uns richteten. Ich hatte einen Gewehrlauf an meinem Kopf. Niels wurde geschlagen und der Kameramann über das Auto geworfen. Das gefährlichste war, daß eine falsche Bewegung uns das Leben hätte kosten können. Ich glaube man hielt uns für RAF-Leute. Nach 15 Minuten wurde der Einsatz abgeblasen, eine Entschuldigung gab es nicht.
Dennoch scheint es auch eine Faszination für Deutschland zu geben.
Diese Faszination kommt vor allem von meinem Drehbuch(co)autor. Niels (Vorsel) ist begeistert von der Industrielandschaft des Ruhrgebietes, für ihn ist das eine Art Kunstwerk.
Sie arbeiten in „Europa“ mit Klischees...
Ja, ja. der Schaffner Onkel zum Beispiel, das ist das dumme Klischee des obrigkeitshörigen, autoritären Deutschen. Das seltsame ist, daß man diese Parodien in Deutschland tatsächlich antrifft. Es gibt zwei Arten mit Klischees umzugehen, man kann sie zerstören und richtige menschliche Wesen schaffen. Für mich ist das nicht interessant. Ich ironisiere sie lieber, verdeutliche sie...
Ein anderes Klischee in „Europa“ ist der naive gutwillige Amerikaner.
Auch den gibt's. Wenn ich mit Amerikanern rede, fällt mir immer wieder auf, daß deren Gehirne anders funktionieren als meins.
Fällt Ihr Interesse für Wagner auch unter die Kategorie Klischee?
Ich liebe seine Musik. Natürlich repräsentiert er ein weiteres Klischee von Deutschland. Mein Traumjob wäre es, in Bayreuth eine Wagner- Oper zu inszenieren. Wenn Werner Herzog es darf, warum ich nicht auch.
Man hat Sie beschuldigt, von rechter Ästhetik fasziniert zu sein.
Natürlich muß man von der Nazi- Ästhetik fasziniert sein, dafür ist sie gemacht. Mich interessieren Psychopathen, weil sie immer bis zu den Extremen gehen. Das taten auch die Nazis mit ihrer Ästhetik. Wenn man sich für Bilder interessiert, ist es spannend zu sehen, wie sie das gemacht haben.
Sie haben keine Angst vor der Suggestion?
Ich glaube, daß nichts, was man in einem Film zeigen kann, gefährlich ist.
Ein deutscher Filmkritiker meinte in Cannes, auf die Art, wie „Europa“ es tut, könne man sich mit der Nazizeit nicht auseinandersetzen.
Ist die richtige Art das Schweigen? Sicher nicht. Machen wir es auf die falsche Art, aber führen wir die Auseinandersetzung.
Sie nennen Ihre Filme privat. Was ist daran privat?
Privat insofern, als daß es sich um meine eigenen Auseinandersetzungen, Phantasien und Visionen handelt. Ich will nicht lehren. Ich bin kein Experte und kein Politiker, und meine Filme sind keine Abhandlungen oder sozialen Manifeste. Ich arbeite mit meinen Gefühlen.
Sie scheinen von der Idee der Hypnose besessen zu sein: in drei Spielfilmen werden die Protagonisten hypnotisiert und in „Europa“ auf eine Art, die den Zuschauer direkt mit hypnotisieren will.
Hypnose und Film haben Gemeinsamkeiten: Ein Film, der funktioniert, wirkt wie eine Hypose. Vielleicht entwickle ich mal sowas wie Hypno-Vison (lacht). Kinohypnose sollte ein Entspannungs-Angebot an die Zuschauer sein: wenn sie ganz in diesen hineingezogen werden. Sportler benutzen diese Technik, warum nicht auch das Kino? Ich würde gerne untersuchen, warum und wodurch Filme wirken. Ich sehe mich auch als einen Werkzeugmacher auf der Suche nach der Perfektionierung und Erneuerung seiner Werkzeuge. Mit denen mache ich Kino.
Warum sind Ihre Filme in englischer und deutscher Sprache gedreht?
Ich hasse es, dänische Schauspieler sprechen zu hören. Wahrscheinlich ist es das gleiche für Sie in Deutsch. Englisch ist für mich die absolute Filmsprache. Wenn Schauspieler Englisch sprechen, klingt das fast automatisch wie im Film.
Ich habe Barbara Sukowa, seit sie mit Faßbinder gearbeitet hat, nicht mehr so gut gesehen. Wie ist Ihnen das gelungen?
Ich weiß nicht. Wir haben uns eine Woche lang angeschrien, und dann war's okay. Jetzt haben wir eine sehr gute Beziehung. Anfangs war sie extrem zickig. Das Hauptproblem mit Schauspielern: sie wollen jede Sekunde ihres Lebens geliebt werden, das verlangen sie auch vom Regisseur. Mich hat das aber überhaupt nicht interessiert. Einer meiner ersten Fragen an sie war ausgerechnet: „Kennst du jemand, der Schlöndorff heißt? Das ist ein absoluter Idiot.“ Dummerweise stellte sich heraus, daß sie enge Freunde sind.
In Ihren Filmen gibt es Elemente, die an Kafka erinnern. Denken Sie daran, einen Text von Kafka zu verfilmen?
Nein, ich glaube fast, daß das unmöglich ist. Selbst Orson Welles ist das nicht gelungen. Seine Kafka- Verfilmung (Der Prozeß) hat weniger mit Kafka zu tun als seine anderen Filme, die voller kafkaesker Momente sind. Europa ist von Kafkas Amerika inspiriert. Mittlerweile finde ich allerdings, daß der Einfluß ein bißchen zu stark ist. Das Problem beim Filmemachen ist, daß man eine lange Zeit an einem Projekt arbeitet — wir haben drei Jahre für Europa gebraucht — und in dieser Zeit verändert man sich als Mensch und Künstler. Wenn man das Drehbuch aber mitwachsen ließe, würde der Film nie fertig werden.
Es geht in „Europa“ um eine Person, die wie bei Kafka in der Falle eines undurchschaubaren Systems gefangen ist. Hätte man die Geschichte nicht auch ohne konkreten Ort und ohne konkrete Zeit erzählen können?
Ich glaube, das Universum eines Films braucht die Autorisierung durch eine existente Realität. Das Fehlen einer konkreten Realitätsebene schwächt einen Film. Die beiden Orson Welles Filme A Touch of Evil und Der Prozeß zeigen, was ich meine: A Touch of Evil ist glaubwürdig, Der Prozeß war ein Schritt zu sehr stilisiert.
Wir haben für Europa ausführlich recherchiert. Wir fanden unter anderem heraus, daß es während des Krieges in Deutschland amerikanische Fabriken gab. Wir sind auf die „Fanta“-Geschichte gestoßen. Die Deutschen haben vor dem Krieg „Coca Cola“ unter Lizenz produziert. Während des Krieges fiel ihnen plötzlich auf, daß sie Getränke des Gegners herstellen. Also haben sie den Namen in Fanta geändert, den wiederum die Amerikaner ihnen nach dem Krieg abgekauft haben.
1984, bei der Präsentation von „Element of Crime“ in Cannes, haben Sie gesagt: „Die hartgesottenen, alten Männer mit Herzen aus Stein müssen sterben, wir wollen keine gutgemeinten Filme mit humanistischer Botschaft.“
Das einzige, was ich heute dazu sagen kann, ist, daß ich mich jetzt wie ein alter Mann fühle und wahrscheinlich in ein paar Jahren ein Herz aus Stein haben werde. Trotzdem finde ich den Satz immer noch richtig, aber ich kann, besonders nach meinem diesjährigen Ausflug nach Cannes, verstehen, wie solche Entwicklungen zustande kommen. Der Regisseur hat einen verdammt einsamen Job und mit dem Erfolg kommen die Probleme. Leute wie Bergmann und Truffaut, auf die meine Kritik zielte, haben hervorragende Filme gemacht, doch dann folgte nur noch Mist, weil sie sich an dem Erfolg festgeklammert haben.
Ich habe dieses Jahr in Cannes das erstemal etwas Ähnliches gespürt. Element of Crime ist in Frankreich mittlerweile fast so etwas wie eine Institution, das macht den Regisseur zu einem sehr alten Mann... Einige Leute hielten es für ein Verbrechen, daß ich danach überhaupt noch einen Film gemacht habe.
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