Papst als begnadeter Anwalt von Europas Einheit

Der Einfluß der katholischen Kirche auf die Schaffung der EG wird oft übertrieben/ Eher mit Spiritualität denn durch Mauschelei focht der Vatikan um die Union/ 1957 freute sich Pius XII. ob der Römischen Verträge, doch gingen sie ihm nicht weit genug  ■ Von Philippe Chenaux

Mythen und Überzeichnungen prägen das Bild, das sich viele von den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft machen — besonders was die Rolle der katholischen Kirche dabei betrifft. Die Entwürfe von Papst Paul II. für Europa, seine Idee von der „Re-Evangelisierung“ des alten Kontinents, haben diese Spekulationen neu belebt. Was damals angeprangert wurde, war der Anspruch des Vatikans unter Papst Pius XII. auf Vorherrschaft gegenüber den katholischen Regierungschefs und EG- Gründungsvätern Schuman, Adenauer und De Gaspari. Aus Europa sollte angeblich ein christlicher Raum nach dem Modell des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation werden. Ähnliches soll auch heute wieder geplant sein. Die Päpste, dies ist wahr, haben Europa seit dem Mittelalter immer ein wenig als christlichen Kontinent betrachtet, der mehr oder weniger direkt ihrer spirituellen Souveränität unterstand. Dies soll jedoch nicht heißen, daß beispielsweise das EG-Projekt, die Staaten nach dem Modell der Vereinigten Staaten in einer Art Föderation zu verbinden, sofort den Segen des Heiligen Stuhls bekommen hätte.

Aber man kann auch die europäische Leidenschaft von Eugenio Pacelli nicht leugnen, der unter dem Namen Pius XII. zu Beginn des Zweiten Weltkrieges Papst wurde. Er war gegenüber paneuropäischen Ideen durchaus aufgeschlossen und hat während seiner langen Papstzeit (1939 bis 1958) nicht aufgehört, die Völker Europas aufzufordern, ihr Bemühen um Solidarität und Union fortzusetzen. Nachdem er während des Krieges die Konturen einer neuen internationalen Ordnung skizziert hatte, unterstützte er nach 1948 die Anstrengungen der militanten Verfechter des europäischen Einigungsgedankens.

Deshalb freute sich Pius XII. auch über die Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957. Ihm ging die Errichtung der EWG allerdings nicht weit genug. Man muß jedoch hinzufügen, daß seine Parteinahme für die Supranationalität nicht nach dem Geschmack aller in der katholischen Welt war. Vor allem die Intelektuellen widersetzten sich teilweise sehr vehement seinem „Eurozentrismus“. Auch die Nachfolger von Pius XII. waren von seinen föderalistischen Überzeugungen nicht übermäßig angetan, setzten jedoch seine Politik der Förderung der Gemeinschaftsidee fort. Beweis dafür ist die völlig außergewöhnliche Ernennung eines apostolischen Nuntius als Botschafter des Heiligen Stuhls bei der Brüsseler Gemeinschaft. Selbst Jean-Paul II., dessen europäisches Projekt viel mehr auf „dieser fundamentalen Souveränität“ zu ruhen schien, „die jede Nation kraft ihrer eigenen Kultur besitzt“, als auf der Beseitigung von Nationalismen, ließ Pius XII. sein generelles Ziel nicht aus den Augen: in Europa eine auf christlichen Werten basierende Zivilisation wiederherzustellen, die es ihnen wie bereits in der Vergangenheit ermöglicht, ihre Überlegenheit in der Welt auszuüben.

Die Verfechter der These vom Vatikanischen Europa kritisieren gerne, daß das Papsttum sich in die europäischen Angelegenheiten einmischt. Sie unterstellen die Existenz eines Komplotts, das von den christdemokratischen Parteien angezettelt worden sei. Nun, die Christdemokraten waren ganz sicher, zusammen mit den Sozialisten, eine Triebkraft für die politische und wirtschaftliche Integration Europas. Aus ihren Reihen sind große Figuren wie Schuman, Adenauer oder De Gaspari gekommen. Die außergewöhnliche Konstellation, welche die Schicksale dieser drei christlichen Staatsmänner zusammenführte, war zweifellos eine historische Chance für Europa. Jedoch vertraten alle drei in erster Linie die Interessen ihrer Länder. Auch unterschieden sich ihre Vorstellungen von der Institutionalisierung des geeinten Europas, das sie bauen wollten, beträchtlich. Und wenn man von dem schwierigen Verhältnis zwischen Präsident Gaspari und Pius XII. weiß, und wenn man sich an das starke und wenig klerikale Temperament Adenauers erinnert, versteht man leicht, daß sie zu keiner Zeit vom Vatikan geleitete Marionetten waren.

Aber obwohl der Einfluß der Kirche und der ihr nahestehenden politischen Kräfte für den Entstehungsprozeß der ersten Europäischen Institutionen nicht überschätzt werden sollte, war die Bedeutung des katholischen Internationalismus für das, was man die Reifung eines europäischen Bewußtseins nach 1945 nennen könnte, auch nicht unbedeutend. Dazu gehören Anstrengungen, um die Versöhnung zwischen den beiden katholischen Ländern Frankreich und Deutschland unmittelbar nach dem Krieg zu beschleunigen. Diese Initiativen im Namen der kontinentalen Einheit waren aber nicht nur auf das deutsch-französische Verhältnis begrenzt. Sie halfen, auch andere Eroberungen vorzubereiten — Vergrößerungen der Gemeinschaft: gestern mit dem vom Frankismus befreiten Spanien, heute mit dem dem Joch des Kommunismus entsprungenen Mittelosteuropa.

Die katholische Kirche spielte dabei ihre Rolle nicht so sehr durch den Einfluß, den sie angeblich auf einige Regierungsvertreter ausgeübt haben soll, sondern durch die Bereitstellung ihrer hervorragenden menschlichen und spirituellen Kräfte, die sie heute wieder zu einer der größten Mächte der Welt macht.

Philippe Chenaux ist Assistenzprofessor an der Universität Genf und Autor des Buches ,Une Europe Vaticane?‘.