ESSAY
: Brüderlicher Kuß

■ Der Nationalismus ist in erster Linie eine Paranoia

Der Autor Danilo Kis stammte aus Subotica, einem serbisch-kroatisch- ungarischen Mischgebiet im Nordosten Jugoslawiens, und war jüdischer Herkunft. Kis gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern des serbokroatischen Sprachraumes und machte sich im Ausland einen Namen als Autor und Übersetzer. In deutscher Übersetzung liegen vor: „Garten, Asche“, „Ein Grabmal für Boris Davidovic“, „Sanduhr“ und „Enzyklopädie der Toten“. Danilo Kis starb Anfang letzten Jahres in Paris, wo er seit 1979 gelebt hatte.

Der Nationalismus ist in erster Linie eine Paranoia. Eine kollektive und eine individuelle. Als kollektive Paranoia ist sie die Folge von Neid und Angst, vor allem aber die Folge des Verlustes eines individuellen Bewußtseins; so ist aber die kollektive Paranoia nichts anderes als die Summe der bis zum Paroxysmus gesteigerten individuellen Paranoien. Wenn der einzelne im Rahmen des gesellschaftlichen Entwurfes nicht in der Lage ist, „sich auszudrücken“, oder wenn ihm dieser gesellschaftliche Entwurf nicht von der Hand geht, ihn nicht als Individuum stimuliert, sondern hemmt, das heißt ihm nicht erlaubt, zu seiner Ganzheit zu gelangen, so ist er genötigt, seine Ganzheit außerhalb der Identität zu suchen und außerhalb der sogenannten gesellschaftlichen Struktur.

Der Nationalist ist — per definitionem — ein Ignorant. Der Nationalist weiß, oder glaubt um seinen Wert zu wissen, um den Wert der Nation, der er angehört. Die Hölle, das sind die anderen (andere Nationen, andere Stämme). Man braucht sie nicht einmal zu überprüfen. Der Nationalist sieht in den anderen ausschließlich sich selbst — die Nationalisten. Angst und Neid. Eine Entscheidung, ein Engagement, das keine Mühe fordert. Nicht nur „die Hölle, das sind die anderen“ (natürlich im nationalen Sinne), sondern auch: alles, was nicht mir gehört, meins ist (das Serbische, Kroatische, Französische...), ist mir fremd. Der Nationalismus ist die Ideologie der Banalität. Der Nationalismus ist daher eine totalitäre Ideologie, die sich ans Volk wendet.

Nationalismus ist Kitsch. In der serbokroatischen Variante — der Kampf um die Vormacht der nationalen Herkunft des Lebkuchenherzens. Der Nationalist kennt eigentlich keine einzige Sprache, keine anderen Kulturen (sie gehen ihn auch nichts an). Aber die Sache ist nicht so einfach. Selbst wenn er eine Sprache kennt, sozusagen als Intellektueller Einblick in das kulturelle Erbe einer anderen großen oder kleinen Nation hat, so dient ihm das Wissen nur, um Analogien herzustellen — auf Kosten dieser anderen natürlich. Kitsch und Folklore, folkloristischer Kitsch, wenn Sie so wollen, ist nichts anderes als getarnter Nationalismus, ein ebenes Feld der nationalistischen Ideologie. Das Insistieren auf dem famosen „couleur local“ ist, sobald es außerhalb des künstlerischen Kontextes, das heißt nicht im Dienst der künstlerischen Wahrheit steht, ebenfalls eine Spielart des Nationalismus.

Der Nationalismus ist die negative Kategorie des Geistes, denn er lebt aus und von dem Leugnen. Wir sind nicht das, was die anderen sind. Wir sind der positive Pol, die anderen der negative. Unsere nationalen, nationalistischen Werte bekommen ihre Funktion erst durch die Beziehung zum Nationalismus der anderen: wir sind Nationalisten, die anderen aber noch viel mehr; wir fangen an zu schlachten (wenn es sein muß), die anderen aber noch mehr; wir sind Säufer, die anderen Alkoholiker. Der Nationalismus lebt von der Relativität. Es gibt keine allgemeinen Werte, ästhetische, ethische etc, es gibt nur relative. Und in diesem Sinne ist der Nationalismus reaktionär. Man muß nur besser sein als sein Bruder oder Halbbruder, ein bißchen höher springen als er, alles andere geht mich nichts an.

Die Ziele des Nationalismus sind immer erreichbare Ziele, erreichbar, weil bescheiden, bescheiden, weil niedrig. Der Nationalist fürchtet niemanden, außer seinen Bruder. Vor ihm hat er existentielle, pathologische Angst; denn der Sieg dieses selbst ausgesuchten Feindes bedeutet die eigene absolute Niederlage, Vernichtung des eigenen Wesens. Jedoch der Sieg über den Freund, den anderen, ist ein absoluter Sieg. Danilo Kis

Der Text erschien zuerst in der Belgrader Wochenzeitschrift 'Vreme‘ (Zeit) vom 29. April 1991. Die Übersetzung aus dem Serbokroatischen besorgte Kristina Pavlovic