■ Titel: Big Jay McNeely

1943 fing alles an: Illinois Jacquet warf bisherige, von Swing-Orchestern und Big Bands geprägte Hörgewohnheiten über den Haufen, als er auf Lionel Hampton's »Flying Home« ein wildes, ekstatisches, nicht enden wollendes Saxofonsolo blies und damit eine neue Modewelle einleitete, die ein Jahrzehnt anhielt: die der »Honkers & Sreamers«. Arnett Cobb war der nächste, dann kam Big Jay McNeely und eine Legion anderer wilder Männer. Jay, der an der UCLA Musik studiert hatte, kam 1949 mit »Deacon's Hop« auf Platz 1 der Rhythm & Blues-Charts, bereicherte seinen Bühnenauftritt mit akrobatischen Verrenkungen, marschierte durchs Publikum (er brauchte kein Mikrophon!) und strich sein Saxophon mit Phosphorfarben an, das dann im Dunkeln weiterleuchtete, während eine Striptease-Tänzerin sich ihres ebenfalls phosphorleuchtenden Bikinis entledigte. Das war der Ursprung des Rock'n‘Roll, viele Jahre vor Bill Haley und Elvis Presley. Selbst Litte Richard gestand: »Jay ist der einzige, der an mich herankommt.«

»Jazz in L.A.« heißt ein großformatiger, unhandlicher »Pappband« (Verlagswerbung! Nieswand, Kiel) von Bob Willoughby, der Anfang der 50er Jahre Chet Baker, Billie Holliday u.a. porträtierte — oder im Falle von Big Jay McNeely mitten im Geschehen war: jene Fotos, die damals sogar in deutschen Illustrierten abgebildet wurden zur Abschreckung vor dem neuen Phänomen Rock'n‘Roll, das unsere zivilisierte Kultur bedrohte. Da war Big Jay, auf dem Rücken liegend, umgeben von Jugendlichen, die mit verzerrten Gesichtern geradezu aus dem Foto schreien — das richtige Beispiel für viele Eltern, denen das Nazigedankengut von arischer Reinheit noch im Kopf herumgeisterte, denen alles Fremde, vor allem amerikanische »Negermusik«, mehr als suspekt war. In der »Nationalzeitung« (Ost-Berlin) stand am 3.Juli 1948: »Wenn unser Volk an Leib und Seele gesunden will, muß es den Jazz ausmerzen wie den Kartoffelkäfer!«.

Herb Geller, Veteran des Cool Jazz in Los Angeles und jahrelang Altsaxofonist beim SFB, erzählt als Zeitzeuge in dem Fotobuch: »Ich sollte mit einem Quartett den Abend mit Big Jay McNeely und seiner damals sehr erfolgreichen Rock'n‘Roll-Band teilen. Angekündigt wurde das Ganze als 'battle between rock and jazz‘. Ich war skeptisch, denn die Anhänger der einen Richtung können meist mit der anderen nicht viel anfangen. Big Jay war einer der Begründer des Genres, der das Publikum mit Hilfe einer ausgefeilten Choreografie in die Massenhysterie trieb. Eigentlich war er ein guter Musiker, der den Jazz an den Nagel gehängt hatte, um mehr Geld zu verdienen. Heute arbeiten tausende von Gruppen mit den gleichen Mitteln, die aber alle nicht so gut sind wie Jay vor 30 Jahren. Wenn ich an diesen Abend zurückdenke, frage ich mich, wie ich gegen jemanden 'gewinnen‘ sollte, der selbst auf dem Rücken liegend und mit den Füßen in der Luft noch gut spielte.«

Weitere Stichworte in McNeely's Lebenslauf: 1959 Riesenhit mit »There Is Something On Your Mind«, bevor die Gitarren des weißen Rock'n‘Roll und der Beat-Welle das Saxofon verdrängten. Jay bekam nur noch kleine Club-Auftritte in seiner Heimatstadt Los Angeles und eine Studiosession mit B.B. King. Tagsüber arbeitete er als Briefträger, bis er 1983 »wiederentdeckt« wurde. 1987 wälzte sich Jay bei der Fernsehübertragung der Grammy-Verleihung auf der Bühne vor B.B. King, Albert King, Robert Cray, Dr.John, Willie Dixon und Etta James. Und weil er an jenem Abend, als die Mauer sich öffnete, in Berlin spielte, nannte Jay seine letzte Platte »Blow The Wall Down«. Er wird die Wände des Franz Club zum Wackeln bringen. Text + Foto: G.Hessig

Heute und morgen um 22 Uhr im Franz Club