Scheunenviertel: Kiez der Hungerleider

■ Der Verein »Stiftung Scheunenviertel« lud Gad Beck und Arnold Munter ein, um über Kindheit und Jugend im Kiez zu erzählen/ Zwei Nachbarn, die sich nie zuvor begegnet sind/ Veranstaltungsreihe zur »Geschichte von unten«

Mitte. Die »Geschichten von unten«, die Erzählungen von Zeitzeugen über längst vergangene Tage, spiegeln nie die ganze Wahrheit wieder, können es auch nicht. Denn, Erinnerungen werden geglättet, romantisiert, das eigene Erleben vermischt sich mit dem oft Gehörten, sie verändern sich, wenn sie oft erzählt werden. Und sie werden bestimmt durch die Erfahrungen von heute. Trotzdem aber sind es wichtige Spuren auf dem Weg zurück.

Der Abend, am vergangenen Dienstag im Kulturhaus Mitte in der Rosenthaler Straße war so ein Abend, der auf Band, noch besser Film, hätte mitgeschnitten werden müssen. Der Verein »Stiftung Scheunenviertel« hatte zum Thema »Kindheit und Jugend im Scheunenviertel« zwei Zeugen eingeladen, die sich nie zuvor begegnet sind, nie von einander wußten und doch in den 20er und 30er Jahren Straße an Straße nebeneinander wohnten. Unterschiedlicher hätten diese beiden Menschen gar nicht sein können. Da war der temperamentvolle, mit Händen und Füßen gestikulierende Gad Beck aus West-Berlin, ein Mann, den es kaum auf dem Stuhl hielt, schrill und witzig, selbstironisch und auf eine hinreißend charmante Weise eitel. Ein Jude, geboren 1926 in einem Hinterhof der Prenzlauer Straße, einer Straße die es im Scheunenviertel nicht mehr gibt, und aufgewachsen in überfüllten Wohnungen der Dragonerstraße. In der Großen Hamburger ging er zur Schule, seine Welt waren die jiddischen Bücherstuben, die Bethäuser und die Gassen voll mit frommen Juden und ihren vielen Kindern.

Daß es auch Nichtjuden gab, merkte er erst spät, viele von ihnen seien »Schabbes-Gojim« gewesen, Christen die gegen Pfennige am Schabbat die Kerzen zündeten und die Öfen heizten. Westlich des Brandenburger Tores war Gad Beck das erste Mal 1938. »Bis dahin war das Scheunenviertel meine ganze Welt.« All seine ganze Kraft, seine hemmungslose Lebensbejahung habe er dem intimen und geschlossenen Milieu des Scheunenviertels zu verdanken, dem »Kiez der Hungerleider und armen Schlucker«. Die Solidarität unter den Armen, ob Juden oder Gojim, so betont er immer wieder, habe ihn unempfindlich gemacht gegen alle Verlockungen von Macht und Geld und dies »für sein ganzes Leben«. Glücklich sei er gewesen, »bis die Vernichtung begann und das Scheunenviertel sich leerte«.

Aber auch später habe ihn das »Milieu« gerettet. In der Nazizeit half eine christliche Portiersfrau »von gegenüber«, sie besorgte Unterkunft und Essen. 1936 tauchte Gad Beck im Scheunenviertel unter und schloß sich der zionistischen Untergrundbewegung »Chaluzim« an. Er entging jahrelang allen Razzien, geholfen hätten ihm immer wieder die kleinen Leute rund um den Alexanderplatz, der Luxemburger und Prenzlauer Straße. Nie, sagte er, habe er mutigere und humanere Menschen außerhalb dieses kleinen Kreises gefunden, hätte er sich nur auf sie verlassen, wäre er im April 1945 nicht verraten worden. Aber darüber wollte Beck an diesem Abend nicht sprechen, sein Thema war eine Hommage an das in der Nazizeit untergegangene Scheunenviertel. Ein Kiez, der ihn zu dem gemacht habe, was er heute ist: ein Jude der die Menschen liebt und sich allen bürgerlichen Normen mit Chuzpe entzieht.

Nach Gad Becks leidenschaftlichem Bericht hatte es Arnold Munter, der erste Stadtrat für Bau- und Wohnungswirtschaft in Ost-Berlin (1948-1952) und zweiter Gast des Abends schwer. Auch er ist ein »Kind des Scheunenviertels«, aber für sein Leben geprägt vom »unbeschreiblichen« Elend und Hunger und dem Wunsch, die Verhältnisse von Grund auf zu ändern. Als Ältester von sechs Kindern wurde er 1912 in der Lothringer Straße geboren, lebte dort in den Hinterhöfen bis 1933. Als Junge mußte er die Geschwister hüten, mit zwölf wurde er Laufjunge für ein Handelsgeschäft. Später lernte er im Kiez Rohrleger, Bauklempner und Dachdecker. 1931 trat er in die SPD ein. Arnold Munter hat immer hart gearbeitet, seine einzige Passion galt dem Sport. Der heute noch bullige Mann war Meisterboxer im Schwergewicht und wurde 1940 als Marathonläufer in die Auswahlmannschaft für die (nicht stattgefundene) Olympiade nach Tokio aufgenommen.

Bis zu seiner Verhaftung durch die Gestapo 1942 wirkte er im Widerstand, er wohnte — und arbeitete gegen die Nazis — immer rund um die Hochmeisterstraße. Natürlich, sagt er, gab es unter den armen Menschen im Kiez viele Nazis, aber die seien nicht so schlimm gewesen, wie die aus anderen Bezirken, welche die Partei ins Scheunenviertel holte. Zum Juden machten ihn erst die Nazis, das jiddische Leben im Kiez sei ihm »selbstverständlich« gewesen, auch wenn er es selber nicht lebte. Immer sei er »Atheist« gewesen. Nur — Arnold Munter war »Mischling«, und die jüdische Abstammung seines Vaters wurde ihm von den SS-Schergen im Konzentrationslager Theresienstadt eingeprügelt. Fast tot, erlebte er die Befreiung des Lagers durch die Sowjets. In das Scheunenviertel sei er nie wieder gezogen, aber die entbehrungsreichen Jahre dort seien ihm Verpflichtung gewesen für sein ganzes Leben. Anita Kugler