Plackerei mit dem nicht-revolutionären Alltag

In Nicaragua sehen sich die sandinistischen Comandantes vor ihrem ersten Parteikongreß einer kritischen und auch ermüdeten Basis gegenüber  ■ Aus Managua Ralf Leonhard

Je näher der erste sandinistische Parteikongreß rückt, desto mehr wird klar, daß es keine Überraschungen geben wird. Die erste Konvention in der dreißigjährigen Geschichte der Sandinistischen Befreiungsfront soll vor allem einem Ziel dienen: die Einheit der Partei zu wahren. Nach fast zwanzigjährigem Untergrundkampf und einem Jahrzehnt an der Macht müssen sich Führung wie Basis erst an die neue Rolle als legale Opposition gewöhnen. Eine Rolle, auf die keiner vorbereitet war. Deswegen ist heute die existenzbedrohende Frage gar nicht, wieso die Wahlen im Februar 1990 verloren wurden, sondern warum vorher keiner gemerkt hat, daß die Mehrheit für die konservative Opposition stimmen würde.

Der Parteikongreß wird am 19. Juli beginnen, einem Datum, das allen Enttäuschten den triumphalen Einzug der sandinistischen Guerilleros nach dem Zusammenbruch des Somoza-Regimes in Erinnerung rufen und die revolutionäre Mystik wiederbeleben soll. 500 Delegierte, die von den Basiskomitees gewählt werden, sollen gemeinsam mit der hundertköpfigen „Sandinistischen Versammlung“ (einem beratendenen, bisher von der Parteiführung ernannten Gremium) die neuen Parteifunktionäre wählen sowie Statuten und Plattform der FSLN diskutieren.

Auf dem Kongreß muß sich das ursprünglich neunköpfige Nationaldirektorium, das seit der Vereinigung der drei Tendenzen im März 1979 bis zu den Wahlen im Vorjahr unverändert geblieben war, erstmals der Basis zur Wahl stellen. Neue Gesuchter wird es geben, weil die Parteiführung in Zukunft elf Mitglieder haben wird und weil von den neun inzwischen nur noch sieben übrig sind. General Humberto Ortega mußte, um auch unter der neuen Regierung Armeechef bleiben zu können, seine Parteiämter niederlegen und Carlos Nunez, der ehemalige Parlamentspräsident, ist im Oktober des Vorjahres gestorben. Die sieben verbliebenen, darunter das letzte überlebende Gründungsmitglied Tomas Borge und Ex-Präsident Daniel Ortega, wollen sich von der Basis bestätigen lassen. „In einer Zeit, wo die Partei in der Defensive ist, würde jede andere Lösung als Schwäche ausgelegt“, glaubt Sofia Montenegro, eine führende Redakteurin der sandinistischen Zeitschrift 'Barricada‘ und eigentlich eine Verfechterin der Erneuerungsbewegung.

Die öffentliche Diskussion findet vor allem auf den Seiten der 'Barricada‘ statt, die vor wenigen Monaten von ihrem Status als offizielles Parteiorgan erlöst wurde und seither ein Forum für alle Meinungen sein kann. Dort wird jetzt ansatzweise aufgearbeitet, was in den letzten Jahren an der Macht alles schiefgelaufen ist. Vor allem der autoritäre Führungsstil der Comandantes, die mangelnde Offenheit gegenüber kontruktiver Kritik, Machtmißbrauch und Korruption werden von der Parteibasis angeprangert. Viele kritisieren auch die staatstragende Rolle Daniel Ortegas und der sandinistischen Parlamentsfraktion, die der Regierung jene Stabilität verschaffen, die sie aus eigner Kraft nicht hätte. Wenn der Wirtschaftsminister Violeta Chamorros zu Verhandlungen mit dem Weltwährungsfonds nach Washington fliegt, wird er vom vom sandinistischen Fraktionschef Sergio Ramirez begleitet, wenn ein Streik zu eskalieren droht, zieht die Regierung Daniel Ortega als Vermittler bei. Kritiker zur Linken und zur Rechten sind erbost über die sogenannte Co-Regierung, eine Art stillschweigende Regierungsbeteiligung der Sandinisten. Tatsächlich ist die Parteiführung darum bemüht, den sozialen Frieden zu wahren und dem Land jenen Aufschwung zu verschaffen, den es nach neun Jahren Krieg und sieben Jahren Minuswachstums dringend braucht.

Die Comandantes wissen genau, daß unter einem Präsidenten Ortega weder die Demobilisierung der Contras so schnell erreicht, noch dem Land die relativ großzügige Behandlung durch die internationale Finanzwelt zuteil geworden wäre. Violeta Chamorro, die über keine eigene organisierte Basis verfügt, braucht die Sandinisten und die Sandinisten brauchen Violeta Chamorro samt ihrem Familienklüngel und Technokratenteam, weil diese verhindern, daß die extreme Rechte um Vizepräsident Godoy an die Macht kommt. Deswegen finden es strategisch denkende Parteileute empörend, daß einige Gewerkschaftsführer bei den Streiks vergangenen Juni den Sturz der Regierung im Sinne hatten.

Doch wo es hingehen soll, weiß noch keiner. Die weltweite Krise der Linken hat auch vor den einst so selbstsicheren Revolutionären nicht Halt gemacht. Und der Entwurf des neuen Parteiprogramms, der unter der Federführung des ehemaligen Landreformministers Jaime Wheelock entstand, bleibt die Anworten auf die drängenden Fragen schuldig. Das Wort Sozialismus kommt in dem gesamten Text nicht vor, die bevorstehende Aufnahme in die Sozialistische Internationale wurde auf Druck der Parteilinken gestrichen. Um eine Definition des Begriffs Mischwirtschaft drücken sich Verfasser des Reformstatus herum. Die vielleicht wichtigste Veränderung, die die Partei erfährt, steht weder im Statut noch in der Plattform: Während früher den Parteimitgliedern ein ununterbrochener Einsatz für Partei und Revolution abverlangt wurde, betrachtet heute kaum einer mehr die Politik als seinen Lebenszweck. „Früher widmete ich mich zu 90 Prozent der politischen Arbeit und den Rest meinem Privatleben“, erzählt die ehemalige Guerillakommandantin und langjährige Spitzenpolitikerin Monica Baltonado. „Jetzt beanspruchen mein Geschäft und die Familie den Großteil meiner Zeit. Ich glaube, die Politik muß Teil des Lebens sein, aber nur Teil.“ Monica Baltonado ist immerhin noch als Stadträtin für Managua und als Kader politisch aktiv.

Andere haben sich ganz ins Privatleben zurückgezogen. Enttäuscht von der Wahlschlappe und vom Verhalten zahlreicher Funktionäre, die vor der Machtübergabe noch schnell absahnten und plötzlich zu Unternehmern und Großgrundbesitzern wurden, haben sich Tausende ehemalige Aktivisten von der Politik abgewandt. An den Versammlungen der Basiskomitees in den Stadtteilen, wo die Dokumente für den Kongreß diskutiert und die Delegierten gewählt werden sollen, nimmt kaum ein Viertel der eingeschriebenen Parteimitglieder teil. Viele haben allerdings wenig Interesse, weil sie wissen, daß auf diesem Kongreß keine strategischen Veränderungen anstehen. Der wirkliche Reformkongreß, der auch eine Generationsablösung bringen muß, steht erst 1994 an.