Spätlese: Henry James

Die englische Sprache ermöglicht einen Stil, der wortreich und ohne Verlegenheit auf der Stelle tritt. Die Bewußtseinsmäander der Mrs. Dalloway sind das berühmteste Beispiel für dieses Sprache, die alles zugleich bedenkt und dabei nicht vorwärtskommt und jede Möglichkeit selbstbewußt ausschlägt, die verständlichkeitsfördernd wirken könnte: so gut wie keine Interpunktion, keinerlei Zuflucht in logisch modifizierende Beiwörter, Nebensatzformen, Einschübe, Zusätze. Statt dessen unbegrenzter Aufenthalt in jenen erhöhten Gefilden der Partizipienbildung, die im Englischen wie im Lateinischen einen Satz zum Bedeutungsberg machen, den es mit Gemach und Mühe abzutragen gilt, seitens der Lesenden hin- und hergerissen zwischen der Einsicht, daß Eleganz ein Luxus ist, für den man Opfer bringen muß, und dem Zweifel, ob das Ergebnis der Lektüre diese Opfer lohnt — denn alles „mußte geschehen sein ohne eine ausdrückliche Einwilligung, ohne daß eigentlich irgend etwas auf vulgäre Weise direkt ausgesprochen worden wäre“.

Vor allem aber ist dieser Stil so gut wie unübersetzbar. Unsere Sprache ist verschwenderisch gesegnet mit wirkungsvollen Bedeutungsträgern, die nichtsdestoweniger, immerhin, gleichwohl, freilich, allerdings, dennoch und insgesamt ohne wenn und aber den logischen Status einer Aussage gewissermaßen in Klammern setzen, bezweifeln, verstärken, ironisieren... es gibt ungezählte Chancen, durch Hinzufügung eines solchen Beiwortes eine glatte Satzoberfläche in Unruhe zu bringen, als zöge die Sprache selbst die Stirne kraus. Darüber hinaus: die Interpunktion! Die Entscheidung zwischen Komma und Semikolon, der üppige Gebrauch von Gedankenstrich und Klammer, schließlich der Höhepunkt der humoristischen Veräußerlichung, die Kursivierung... Aber alle diese Möglichkeiten des Deutschen sind vollkommen ungeeignet, jene semantische Ebene herzustellen, die im Englischen Eleganz bedeutet, jenes Türmen von Bedeutungen und Verschlingen von Bezügen wiederzugeben, das eben nicht auf einzelnen Wörtern und ihrer Position im Satz beruht...

Neben Virginia Woolf kann der in New York geborene Henry James, der sich in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in London niederließ, als Vertreter dieses Stils gelten, bei dem äußere Langeweile und innere Gedankentätigkeit eine scheinbar unauflösbare Bindung eingehen. In der nun erstmals ins Deutsche übersetzten Erzählung ‘Im Käfig' passiert zwar allerhand, aber dem Autor glückt es dennoch, den Eindruck zu erwecken, das Leben selbst sei ebenso bewegungsarm wie seine Sprache. Die gleichgültige Mißachtung aller Regeln des Erzählens erspart es ihm, die auftretenden Personen mit einem anderen denn unregelmäßig flackernden Licht zu bedenken, so daß die LeserInnen mit ihrer Einschätzung des Innen- und Außenlebens der Vorgestellten souverän und selbständig umgehen lernen...

Der 147 Seiten umfassende Text läßt uns sogar im Zweifel über die Hauptfigur, eine junge Telegraphistin, der lange Passagen des von der Literaturwissenschaft gern so genannten „inneren Monologs“ gewidmet sind — in diesem Fall ein unschlüssiges, aber geschmeidiges Oszillieren vom Blick der Hauptfigur auf ihre Umgebung zum gnädig auf ihr ruhenden Blick des Verfassers — : ist sie ein Snob? ein bedauernswertertes Wesen? eine energische Person? eine Romantikerin? ein tiefgründiges Geschöpf? eine Hysterikerin?

Es handelt sich beiläufig um eine Liebesgeschichte; beiläufig, weil nahezu alles vernachlässigt wird, was zur Liebe oder aber zu einer Geschichte gehört: keinerlei Leidenschaft, Glückseligkeit, Aufruhr des Inneren bis auf eine kleine, sofort erstickte Ahnung in der Jungmädchenbrust der Protagonistin, keinerlei Bewegung des Äußeren bis auf verlegene zehn Minuten mit dem Erwählten ihrer Gedanken auf einer Parkbank — sitzend natürlich. „Später sollte es für sie ein Stück Erinnerung und ein Anlaß zur Nachdenklichkeit werden, daß das Äußerste, was sich genau hier für eine lange Minute zwischen ihnen ereignete, eben darin bestand, daß er ihre überaus erfolgreiche und doch ohne Stolz oder Getöne oder unangemessene Gefühlsäußerung übermittelte Zurückweisung der Vorstellung registriert hatte, sie könnte außerhalb des Käfigs letzten Endes genau das Ladenmädchen sein, welches sie, der von ihr gehätschelten Theorie nach, nicht war.“

Die Protagonistin flieht, selbstredend nur in Gedanken: vor der erstickenden Dürftigkeit ihres wenig aussichtsreichen Lebens als kleine Postangestellte im London der Jahrhundertwende, verlobt mit einem Krämer mit ebensolcher Seele. Sie flieht in die vage aber zähe Vorstellung einer nicht näher definierten inneren Verbindung mit einem Elegant, der bei ihr seine Telegramme aufgibt — kurze, verrätselte Nachrichten an alle Welt, mit denen er sein launisches und aufwendiges Privatleben organisiert und die sie mit jener hermeneutischen Qualifizierung, zu der allein einseitige Verliebtheit verhilft, für sich entschlüsseln lernt.

Nach jenen zehn Minuten auf der Parkbank, durch die milde Dämmerung mit dem Elegant atmosphärisch verbunden, hält das Leben nur noch einen Höhepunkt für unsere Heldin bereit: dank ihres phänomenalen Gedächtnisses (mit der Erinnerungsschärfe jener, die nichts eigenes zu behalten haben und so die Anwälte anderer geworden sind), unterstützt von ihrer libidinös intensivierten Fähigkeit zur Hermeneutik, kann sie ihrem Angebeteten aus einer Klemme helfen, die auf eine Namensverwechslung in einem Wochen zurückliegenden Telegramm zurückgeht.

Sie, das Mädchen aus dem Volk mit den höheren Neigungen und der sanften Einfühlung, kann sich noch einmal nützlich machen, bevor durch Heirat jener Elegant aus ihrem Gesichtskreis verschwindet und sie, nun frei geworden von den schönsten Hoffnungen, auch ihren Krämer ehelicht.

Es gibt eine wunderbare, im Gedächtnis der Leserin schon halb verschollene Novelle von Schnitzler, die ebenfalls die Fliehträume einer Telegraphistin zum Gegenstand hat. Schitzlers Telegraphistin geht nicht in einem zwar ärmlichen, aber immerhin lebhaften Viertel Londons ihrer Arbeit nach, sondern in einem toten Winkel Österreichs, wohin von der k.-u.-k.-Metropole kein bißchen Glanz, statt dessen nur noch Schatten fällt. Beide Mädchen sind um die zwanzig, beide wagen schon nichts mehr zu hoffen, beide sind bis in die letzte Beuge ihrer Seele dem Bewußtsein ausgeliefert, daß die ihnen gebührende Schönheit allein in jener melancholisch-ehrbaren Resignation liegen kann, die „jeden Tag mit einem Lächeln scheiden sieht“ (wie es beim herbstlichen Stefan Zweig heißt).

Doch Schnitzlers Telegraphistin ist von Anfang an Person. Die Eröffnungsszene der Novelle stellt das langsame Versichern ihrer Lebenszeit indirekt dar — indem der Blick des Erzählers die Gegenstände um sie herum abwandert, den Belag von Staub und Vergeblichkeit, der auf ihnen haftet. Der unruhige Auge des Erzählers kreist das Mädchen langsam ein, ohne es zu berühren — aber abgesehen davon, daß dieser Beginn die vielleicht dichteste Beschreibung des provinziellen, hoffnungslosen, unentrinnbaren Stillstandes von Zeit im Fin-de-siècle ist, konturriert er auch die Protagonistin, ohne von ihr zu sprechen: wer zu einem derartigen Stillstand verurteilt ist, kann nur, so er oder sie nicht ganz und gar stumpf geworden sind, mit jedem Gedanken das Weite suchen.

Henry James' Protagonistin bleibt unbestimmt, sie ist von Anfang an und bis zuletzt so wenig faßbar wie ihr „innerer Monolog“, sie dämmert durch die Erzählung, ja, die Erzählung dämmert selbst... Ich vermute, daß James diesen Effekt beabsichtigt hat, daß er nichts Genaueres mitteilen mitteilen wollte, daß es ihm darum zu tun war, die Grenzen zwischen dem inneren Monolog und der äußeren Langeweile bis zur Unkenntlichkeit, auch sprachlich, aufzulösen. Das ist ihm allerdings gelungen, und damit ist die Erzählung definitiv mißglückt; der Kunstwille der Leser muß in der Tat bemerkenswert sein, will er darüber hinweglesen. Auf ebenso hohem Niveau gescheitert ist notwendigerweise auch der Übersetzer, der sich der eingangs beschriebenen Quadratur des Kreises stellen mußte, die englische Komplexität in eine deutsche zu überführen.

„Nach diesen Worten — noch immer mit dem Häufchen Gold in ihrem Schoß und einem bißchen von dem Stolz darüber in der Art, wie sie den Kopf hielt — fuhr sie fort, sich nicht zu bewegen.“ Wenn es etwas gibt, das diese Erzählung und ihre Übersetzung charakterisiert, dann ist es diese wenig glückliche Formulierung in der Parenthese und ihre ebenso James-typische wie klug übersetzte Umrahmung: sie fuhr fort, sich nicht zu bewegen.

Henry James: Im Käfig

Erzählung

Ins Deutsche übertragen von Gottfried Röckelein

ars vivendi verlag, Cadolzburg

147 Seiten, gebunden & schön ausgestattet