OMON probt Sturz der litauischen Regierung

Die Miliz des sowjetischen Innenministeriums besetzt für mehrere Stunden die Telefonzentrale in Vilnius/ Ziel ihrer ultrakonservativen Befehlshaber ist es, Gorbatschow in den Augen der internationalen Weltöffentlichkeit zu diskreditieren  ■ Von Ojars J. Rozitis

Als Generalprobe „für den möglichen Sturz der rechtmäßig gewählten Regierung“ des Landes bezeichnete der litauische Vizepräsident Ceslovas Stankevicius die Erstürmung des Haupttelegraphenamtes in Vilnius. Die Sondereinheiten des sowjetischen Innenministeriums „OMON“ hatten am Mittwoch abend für zwei Stunden alle Telefonverbindungen in die sowjetischen Republiken sowie ins Ausland unterbrochen. Eine Begründung hierfür lieferte ein diensthabender Beamter im Moskauer Innenministerium: Das Gebäude sei besetzt worden, weil man vermutete, daß dort Waffen gelagert würden. Gewehre, Pistolen und Sprengstoff wären beschlagnahmt worden. Litauische Beamte sprachen dagegen von einer Provokation: Die OMON-Leute hätten die Waffen selbst versteckt.

Wie schon bei den wiederholten Überfällen der OMON auf Grenzposten in Lettland und Litauen in den vergangenen Wochen hat der zuständige sowjetische Innenminister und einstige KGB-Chef Lettlands, Boris Pugo, jegliche Verantwortung für die Besetzung von sich gewiesen. Auch damals hatte er entsprechende Erklärungen der lettischen Regierung, die OMON-Einheit aus Riga sei an den Aktionen beteiligt gewesen, gegenüber der Regierungszeitung 'Iswestija‘ als „unbegründet, tendenziös und provokatorisch“ zurückgewiesen. Allerdings mußte Pugo diese Aussage in demselben Blatt schon kurz darauf korrigieren. Der Anlaß: eine Filmreportage des bekennenden Monarchisten und TV- Journalisten Njewsorow im Leningrader Fernsehen, der schon in seiner Januar-Berichterstattung aus Vilnius die plumpsten Register gezogen hatte, um die „Schwarzen Barette“ als wahre Sowjethelden herauszustellen. Sein neuestes Opus zeigt dann auch die OMON-Kommandos bei ihren Einsätzen gegen die lettischen Grenzposten; der Tenor des Beitrags: hier wird Recht und Ordnung wieder Geltung verschafft.

Womöglich ist eine Antwort auf die Frage nach den Verantwortlichen in der Auskunft zu finden, die der sowjetische Ministerpräsident W.Pawlow seinem estnischen Amtskollegen E.Savisaar am 27.Mai gegeben hat. Pawlow stritt eine Beteiligung seines Kabinetts an den Aktionen der „Schwarzen Barette“ ab, verwies aber darauf, daß das Innen- und das Verteidigungsressort in einigen Fragen nicht dem Kabinett, sondern dem Verteidigungsrat unterstellt sei. Sollte dies auch im vorliegenden Fall zutreffen, so kann man nur folgern, daß die letztendliche Verantwortung für die Überfälle der OMON bei einem Gremium liegt, dessen Vorsitzender kein geringerer als Staatspräsident Michail Gorbatschow ist.

Es gibt zu denken, daß Moskau die ursprünglich für den 23.Mai anberaumten Konsultationen zwischen Lettland und der UdSSR über politische, soziale und wirtschaftliche Fragen kurzfristig abgesagt bzw. eine Verschiebung vorgeschlagen hat. In diesem Zusammenhang könnten die OMON-Aktionen als ein Versuch gesehen werden, Spannungen herbeizuführen, die eine Fortsetzung der Gespräche bis zum Abschluß des neuen „9+1“-Unionsvertrags im Juli unmöglich machen. Danach nämlich würden die beitrittsunwilligen Republiken als normales Ausland gelten und könnten nicht mehr auf jenes „maximale Entgegenkommen“ zählen, das sich die Mitglieder der reduzierten Union gegenseitig zusichern wollen.

Möglich ist auch eine makabre „pädagogische“ Deutung der Überfälle: Zwar fielen sie relativ „harmlos“ aus, doch schwingt in ihnen der Verweis auf ein mögliches Mehr an Gewalt ständig mit. Die Überfälle auf lettische und litauische Zollstationen als gleichsam „zivilisierte“ Aufforderung an die baltischen Republiken, es sich doch noch einmal zu überlegen und dem neuen Unionsvertrag beizutreten?

Die mögliche Wandlung der baltischen Republiken zum Ausland würde aber auch das „Aus“ für jene örtlichen Gegenmachtkartelle bedeuten, zu denen sich die orthodoxe KP mit den sogenannten Interfronten verbündet hat. Deren Mitgliedschaft rekrutiert sich vorwiegend aus sowjetischen Militärpensionären sowie Funktionären und Belegschaften von Behörden und Betrieben, die der direkten Kontrolle Moskaus unterstehen. In diesen Kreisen ist das offenkundige Bestreben Gorbatschows, die UdSSR in möglichst ungeschmälerter Gestalt zu erhalten, stets sehr extensiv ausgelegt worden. Zufall oder nicht: am 23.Mai — an jenem Tag also, für den ursprünglich die Konsultationen zwischen der lettischen und sowjetischen Regierung angesetzt waren — demonstrierten etwa 1.000 Anhänger der Interfront Lettlands vor dem Gebäude des Ministerrats in Riga. In der darauffolgenden Nacht schlugen die OMON- Truppen gegen die Zollstationen los — auf Geheiß der Massen, der unionstreuen?

Es ist aber auch nicht auszuschließen, daß es sich bei den Überfällen letztlich um ein Manöver konservativer Gegner Gorbatschows in der Spitze des Moskauer Machtapparats handelt, die den Staatspräsidenten vor dem Auftritt bei der Konferenz der führenden westlichen Wirtschaftsmächte im Juli in London kompromittieren wollen.

Sollten die jüngsten Aktionen der „Schwarzen Barette“ zum Ziel gehabt haben, die baltischen Republiken von ihrem Unabhängigkeitskurs abzubringen, so haben sie eher das Gegenteil bewirkt und in letzter Zeit sich etwas mühselig dahinschleppenden Bemühungen um ein koordiniertes Vorgehen Estlands, Lettlands und Litauens wiederbelebt. So haben sich die drei Republiken u.a. auf gegenseitige Konsultationen und Informationen sowie auf einen Baltischen Fonds zur Finanzierung von gemeinsamen Großvorhaben (Telekommunikation, Energieversorgung) verständigt. Inzwischen hat die sowjetische Seite ein Protokoll unterzeichnet, das die Unabhängigkeit Lettlands als Verhandlungsgegenstand fixiert. Doch die sowjetische Delegation führte die Gespräche auf der Basis des alten Unionsvertrages, der — da ja gerade der neue vorbereitet wird — nicht mehr viel wert ist. Angesichts von gegensätzlichen Unions- und Republikgesetzen blieb außerdem die Formulierung über die „Ablehnung der illegitimen Anwendung von Gewalt zur Lösung strittiger Fragen“ unbestimmt.

Einen besonders perfiden Sinn für Geschichtliches offenbarten OMON-Kommandos bei einer Aktion in der Nacht vom 13. auf den 14.Juni: sie besetzten vorübergehend den Heldenfriedhof in Riga. Dort, so ihre fadenscheinige Erklärung, hätten Letten beabsichtigt, das zum Gedenken an Sowjetheroen brennende Ewige Feuer zu löschen. Vor genau 50 Jahren waren aber in dieser bewußten Nacht mehr als 16.000 Letten von der Sowjetmacht nach Sibirien verschleppt worden. Die Frage ist also mehr als berechtigt, ob bei diesem Einsatz der „Schwarzen Barette“ als Motiv nicht das Kalkül gedient haben mag, eine Provokation an einem derart emotionsgeladenen Datum würde zu einer Überreaktion führen, die letzten Endes die Verhängung des Präsidialregimes rechtfertigen könnte, das Ultrakonservative als Ausweg aus der Malaise der UdSSR beschwören. In demselben Maß nämlich, wie die Entwicklung auf den Abschluß des „9+1“-Unionsvertrags hin läuft, läuft die Zeit im Baltikum gegen die OMON und ihre Hintermänner.