Im Müll fallen die Reste der Barrikaden kaum auf

In den Armenvierteln von Algier herrscht jetzt angespannte Ruhe/ Gerüchten zufolge ist die Zahl der Toten und Verletzten höher als offiziell zugegeben/ In Bab El-Oued stützt sich die FIS auf Verzweiflung, Armut — und Paranoia der Bewohner  ■ Aus Algier Franz Reppert

Der Ortsfremde merkt zunächst nichts. Seit dem Generalstreikaufruf der Islamisten vor vier Wochen, als die städtische Müllabfuhr von Algier die Arbeit einstellte, sind die Straßen von Bab El-Oued so verdreckt, daß ein paar Müllhaufen mehr kaum auffallen. Die Barrikaden, die die islamistische Hochburg Algier absperrten, wurden beiseite geschoben und blockieren die Straßen nicht mehr.

Sieben Tote und 24 Verletzte, das ist die offizielle Bilanz der mehrtägigen Polizeiaktion hier und in anderen Vierteln Algiers, um islamistische Inschriften von den Amtsgebäuden zu entfernen. Gerüchten zufolge soll es jedoch allein in Bab El-Oued fünf, wenn nicht gar acht Tote gegeben haben. „Die Polizei hält Verwundete als Geiseln fest“, behauptet ein Mitarbeiter der Islamischen Heilsfront (FIS). „Sie läßt niemanden in das Kommissariat.“ Vor den Krankenhäusern jedoch sind es FIS-Ordner, die Einlaß verwehren und Auskünfte verweigern.

Seit Mittwoch früh zeigt die Armee wieder verstärkte Präsenz in Bab El-Oued. Jede Nacht sind Schüsse zu hören, am nächsten Tag berichten die Medien dann von „Verstößen gegen die Ausgangssperre“. Ein lächerlicher Kleinkrieg hat sich um das Ratsgebäude entfacht. Das Schild „Islamische Gemeinde“ ist zwar abmontiert, doch ab und zu erscheint ein Transparent mit derselben Inschrift, das die Polizei dann wieder entfernt.

Nur 15 Minuten dauerte es am Dienstag nach einem entsprechenden Aufruf der FIS über die Lautsprecher der Moscheen, bis die Straßen mit Barrikaden blockiert waren. Vor allem die Ghettojugend, frustriert, unpolitisch und ohne Perspektiven, sucht die Konfrontation mit der Staatsmacht. 110.000 Einwohner hatte der Stadtteil 1987 — inzwischen sind es nach offiziellen Schätzungen nahezu 200.000, und das auf eineinhalb Quadratkilometern, eingezwängt zwischen dem felsigen Strand und kahlen, steilen Bergen. Wo sich drei Familien eine Zwei-Zimmer-Wohnung teilen, ist richtiges Leben kaum möglich. Denjenigen, die zu acht in einem Raum schlafen sollen, bleibt nachts wenig mehr als das Herumlungern am Strand. Und seit Verhängung der Ausgangssperre ist auch dies nicht mehr möglich.

Der Haß auf die Institutionen, die sich seit Jahrzehnten an der Macht halten, ist groß. „Wir scheißen auf die FLN“, steht in krakeligen Buchstaben auf einer Straße. „Präsident Chadli hat uns zwar Demokratie gebracht — aber die Arschlöcher von der Partei weigern sich, ihre Sessel zu räumen“, schimpft ein Mann an der Ecke. „Jetzt kommt die Partei und schießt auf uns. Was sollen wir machen?“

In seinem Arbeitszimmer im Ratsgebäude von Bab El-Oued sitzt Abu Usamma vor gerahmten Koransprüchen. Er ist einer der vier Vizepräsidenten des Rates. Er weist jegliche Verantwortung für die Probleme Bab El-Oueds von sich. „Wir haben kein freies Bauland mehr“, klagt er in bezug auf die Wohnungsknappheit. „Die meisten Grundstücke gehören nicht der Gemeinde, sondern dem Staat. Aber zwischen uns und dem Staat gibt es gegenwärtig keine Verständigung. Also passiert nichts. Eigentlich müßte man ganze Blöcke abreißen und neu aufbauen, denn sie sind einsturzgefährdet. Seit 1985 liegen Sanierungspläne in den Schubläden der Regierung. Aber sie tut nichts. Und wir haben kein Geld.“ Ein Mitarbeiter fällt ein: „Die FLN beschneidet unsere Kompetenzen immer mehr. Nicht einmal Personalausweise dürfen wir mehr ausstellen.“ Glaubt man ihm, sind die Islamisten die friedliebendsten Demokraten der Welt: „Als wir auf die Straße gingen, hielten wir nur den Koran in der Hand.“ Er erhebt die Stimme: „Wir sind die einzige wahre Opposition im Land. Wir sind die Mehrheit, das Volk hat uns gewählt.“ Und warum ging die FIS auf die Straße? „Weil wir eine Islamische Republik wollen.“

Zum Zwecke weiterer Aufklärung bietet der Türsteher Mourad an, mich in ein Café zu begleiten. Eifrig grüßt er nach links und rechts, während er durch die engen Gassen spaziert. „Früher gab es hier viel Schlechtes“, erklärt er. „Aber seitdem es die FIS gibt, ist das vorbei. Drogen, Aids — das haben wir nicht. Denn wir folgen dem rechten Weg, wie er im Koran steht. Politik ist zweitrangig. Wir trauen keinem Menschen, nicht einmal Madani und Bel-Hadsch (Führer der FIS). Wir vertrauen nur Gott. Denn das irdische Leben bedeutet uns nichts. Wichtig ist nur das Leben nach dem Tode, das Paradies.“

Beim Kaffee redet sich der Basisaktivist in Stimmung. „Wir werden diesen Staat beseitigen und einen islamischen Staat aufbauen“, verkündet er. Darin würden alle Moslems gleich sein. Mit dem beschlagnahmten Vermögen der FLN-Barone würde man die Wirtschaftskrise lösen. Und, als sei es die natürlichste Sache der Welt: „Dann werden wir Jerusalem befreien und die Juden töten.“

Aber ist der Islam nicht eine Religion des Friedens? „Die Juden“, doziert Mourad mit erhobenem Zeigefinger, „haben gesündigt. Sie haben die Schriften verfälscht. Sie haben Verrat an Gott begangen.“ Und er schweift ab in eine wirre Geschichte über das antike Judentum unter Moses, welches vor Jahrtausenden Palästina überfallen und „die Riesen“ umgebracht habe. Die Riesen? „Ja, Riesen. Früher waren die Menschen viel größer als heute. Adam, der erste Mensch, war 31 Meter groß. Aber seitdem werden die Menschen immer kleiner“, und daran seien die Juden schuld. „Die Juden lieben zwei Dinge: das Geld und das irdische Leben. Sie haben keinen Gott. Sie glauben nicht an ein Leben nach dem Tode.“

Ohne darauf angesprochen zu werden, bringt der geduldig belehrende Islamist Hitler ins Gespräch. „Die Juden sagen, er hätte sechs Millionen von ihnen umgebracht. Aber das sagen sie nur, damit man Mitleid mit ihnen hat. Ein, zwei Millionen ja — sechs Millionen nein.“ Insgesamt, phantasiert er, gebe es auf der Welt eine Milliarde Juden. „Wir werden sie alle töten. Es wird der größte und der letzte Krieg der Weltgeschichte — das Ende der Welt.“

Über eine Stunde lang verfolgt der brave Türsteher des Rates von Bab El-Oued seine Spinnereien. Wie will denn die FIS mit solchen Ideen die Wahlen gewinnen? Auf diese Frage versteinern sich plötzlich seine Gesichtszüge: „Wir werden gewinnen“, schnarrt er. Aber es könnte doch auch anders kommen? Einige Sekunden lang schweigt Mourad, überlegt und verkündet schließlich mit Überzeugung: „Krieg. Dann gibt es den totalen Krieg.“

Die Frage, was all seine Theorien mit den Problemen in Bab El-Oued zu tun haben, bleibt unbeantwortet. Mit festem Händedruck verabschiedet sich Mourad, der Türsteher. An einem Kino biegt er um die Ecke. Hier wird der neue US-Thriller gezeigt: Blue Jean Cop, die Unterzeile auf dem Filmplakat: „Was immer Du tust — hol nicht die Polizei.“