Links-Wende beim 'Tagesspiegel‘

■ Auf einmal kämpft das bürgerliche Feuilleton für den Osten

Schöneberg. Wenn das unser kapitalistischer Speerspitzer in Sachen Kultur geahnt hätte: Kaum ist Bernhard Schulz, Freund aller Wolga-Deutschen und eigentlich noch immer Feuilletonchef des 'Tagesspiegels‘, für wohl drei Monate im »Urlaub«, schon bricht in seinem Ressort die Anarchie aus. Da schreibt in der Donnerstagsausgabe ein gewisser Günther Rühle doch glatt in einem mit reichlich Sprechblasen und akademischen Allgemeinplätzen nur notdürftig getarnten Elaborat unter der Überschrift »Ein Auftrag an die Stadt Berlin — Aspekte der gegenwärtigen und zukünftigen Kulturpolitik« den Kommunismus herbei!

Dieser Rühle fängt ganz harmlos an: So nennt er die »Liquidierung« der Ost-Akademie der Künste durch den Westen »unproduktiv«. Dann beklagt er, daß im Osten die Zahl der Verlage geschrumpft sei und wirft sich für den Aufbau-Verlag, Rütten & Loening, Henschel und Volk und Welt ins Zeug. Rühle fragt: »Alle desavouiert durch ihre frühere Parteigebundenheit?« und fordert: »Man soll auch da sehen, was außerdem war, nicht zu schnell ‘abwickeln‚.« Denn wenn Berlin wieder eine Verlagsstadt werden solle, bräuchte es diese Häuser. Auch hielte er es nicht für den »besten Einfall«, ihr Schicksal »wie eine Schuhfabrik« in die Hand der Treuhand zu legen.

Und schließlich kommt es wirklich dick. Wörtlich schreibt er: »Literatur in Berlin ist heute auch Christoph Hein, Christa Wolf, Stefan Heym, Stephan Hermlin, Volker Braun, Günter de Bruyn, auch Hermann Kant, Helga Königsdorf und andere, wie immer die Geschichte jedes einzelnen auch war. Diese Berliner Substanz ist stärker als die im Westteil der Stadt. Die neue Situation bindet sie alle an neue Beobachtung, Analyse und Beschreibung. Wer soll den derzeitigen gesellschaftlichen Wandlungsprozeß beschreiben, wenn nicht sie und ihre westdeutschen Kollegen?«

Ja, darf der das denn? Schon Christa Wolf vereinigte doch bisher die Feuilletonisten aller Tageszeitungen zur Nationale der Wadenbeißer. Und jetzt wagt es dieser Mensch gar die Namen Hermann Kant und Helga Königsdorf im Zusammenhang mit »Literatur« und nicht mit »Verbrechen« zu nennen. Was also ist los im 'Tagesspiegel‘? Wo Chef-Schulz doch jetzt monatelang alles, aber auch alles dafür getan hatte, daß der Osten doch bitte mit Stumpf und Stil abgewickelt und sein 16-Millionen-Volk von Tätern am besten in die Wüste Gobi geschickt werden. Schulz haute sogar derartig drauf, daß — nachdem er anscheinend in Ungnade gefallen ist — sein faktischer Nachfolger Rühle jetzt offenbar um der historischen Gerechtigkeit willen jetzt erst mal auf ND- Kurs geht. Und das obwohl Dr. Rühle zwar nicht der neue Feuilletonchef ist, sondern »Berater der Chefredaktion«, und ansonsten in seiner 67jährigen Biographie nicht gerade auf eine lange kommunistische Vergangenheit verweisen kann: Volontär bei einer Vertriebenenzeitung, 'FAZ‘-Feuilletonchef, Frankfurter Schauspielintendant.

Wir wiederholen also die Frage: Was ist passiert im 'Tagesspiegel‘? Dessen Feuilleton — insgesamt zwar nicht unbedingt die allertreueste Anhängerschaft etwa von Hermann Kant und Helga Königsdorf — findet immerhin — so hörte man —, daß nun ein »Übergang von der Steinzeit ins Mittelalter« geglückt sei. Gabriele Riedle