Der Tod und das Mädchen

Ein Stück in drei Akten  ■ Von Ariel Dorfman

Erster Akt

Die Personen des folgendes Stückes sind: Paulina Salas, der Rechtsanwalt Gerardo Escobar, ihr Ehemann, und Jorge Miranda. — Im ersten Akt kehrt Gerardo wegen einer Autopanne verspätet nach Hause zurück, nachdem er vom Präsident des Landes zum Mitglied einer Kommission zur Untersuchung der Verbrechen unter der — inzwischen beendeten — Militärdiktatur des Landes ernannt worden ist (Erste Szene); bei einer Autopanne auf dem Rückweg, so erzählt er Paulina, habe ihm ein Fremder, Jorge Miranda, mit einem Wagenheber ausgeholfen und ist von ihm für das Wochenende zum Essen eingeladen worden. Miranda taucht noch am selben Abend wieder auf, nachdem er im Autoradio von der Ernennung Gerardos gehört hat (Zweite Szene), und die beiden Männer diskutieren über die Kommission, über Recht und Gerechtigkeit; Jorge wird von Gerardo eingeladen, die Nacht bei ihnen zu verbringen. Paulina hat jedoch in Jorge Miranda einen ihrer Folterer aus der Zeit der Militärdiktatur erkannt. Als ihr Mann bereits schläft, geht sie mit einer Pistole in das Zimmer des schlafenden Gastes, schlägt ihn mit dem Knauf bewußtlos, fesselt und knebelt ihn und zerrt ihn in das Wohnzimmer.

Dritte Szene

Kurz vor Morgengrauen. Jorge öffnet die Augen, versucht aufzustehen, begreift, daß er gefesselt ist. Hin- und herrollend versucht er verzweifelt, sich zu befreien. Paulina sitzt ihm gegenüber, mit einer Pistole in der Hand. Jorge sieht sie mit entsetztem Gesicht an.

Paulina: Guten Morgen, Doktor... Miranda war es? Doktor Miranda. Sie zeigt ihm die Pistole und richtet die Mündung spielerisch auf ihn. Sind Sie vielleicht verwandt mit den Mirandas von San Fernando? Eine Freundin von mir an der Universität hieß Miranda, Ana Maria Miranda. Anita hatte ein sehr gutes Gedächtnis, wir nannten sie immer unsere kleine Enzyklopädie. Keine Ahnung, was aus ihr geworden ist, wahrscheinlich Ärztin. Sie sind doch auch Arzt, nicht? Ich habe mein Medizinstudium nie zu Ende gemacht, Doktor Miranda. Ob Sie sich wohl vorstellen können, warum? Warum ich nicht Ärztin geworden bin? Ich denke doch, daß Sie Ihre Phantasie nicht besonders anstrengen müssen, um darauf zu kommen. Aber Gott sei Dank gab es Gerardo. Er — nun ja, er hat nicht gerade auf mich gewartet, würde ich sagen, aber immerhin liebt er mich noch, und deshalb mußte ich nicht zur Universität zurück, um mein Studium fertig zu machen. Das war mein Glück, weil ich nämlich eine Art ... Phobie ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber vielleicht: Distanz gegenüber dem von mir gewählten Beruf empfand. Naja, man sagt ja, daß das Leben nicht vorbei ist, solange man noch nicht tot ist, und deshalb ist es vielleicht keine schlechte Idee, wenn ich mich doch noch mal einschreibe, Sie wissen schon, wieder um Zulassung bitte. Ich habe neulich nämlich gelesen, daß die Universität jetzt, wo die Armee nichts mehr zu sagen hat, den entlassenen Professoren und Studenten erlaubt, sich wieder zu bewerben.

Aber ich plaudere hier so vor mich hin. Dabei sollte ich doch Frühstück machen, ein schönes Frühstück, nicht? Also, wie war das doch: Sie mögen gerne Schinken mit Mayonnaise und ein Tomatenbrot, ja, so war das doch. Leider haben wir keine Mayonnaise im Haus, aber Schinken haben wir, Gerardo mag auch gerne Schinken. Ich werde dann schon noch herausfinden, was Sie sonst noch gerne mögen. Und ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, daß das jetzt für den Moment ein Monolog bleiben muß. Sie kommen schon noch dran, Doktor, keine Sorge, ich werde dafür sorgen, daß Sie mit dem Reden an die Reihe kommen. Aber jetzt gerade ist es mir lieber, Sie behalten diesen — Knebel nennen Sie das doch? — im Mund, zumindest bis Gerardo auftaucht. Der Mann vom Reparaturdienst kommt ja auch bald. Sie geht zur Schlafzimmertür, schließt sie auf und öffnet sie. Eigentlich ist es wirklich Zeit, daß er jetzt mal aufsteht.

Na, Sie sehen aber gelangweilt aus. Wie wäre es denn wohl, wenn wir uns Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ anhören, während ich schon mal Frühstück mache? Sie geht zum Kassettenrecorder und legt die Kassette ein. Man hört Schuberts Quartett „Der Tod und das Mädchen“. Wissen Sie, wie lange es her ist, daß ich dieses Quartett gehört habe? — Wenn es im Radio kommt, schalte ich es schnell aus. Und ich versuche auch, nicht soviel auszugehen, obwohl Gerardo ständig eingeladen wird, und wenn er womöglich Minister wird, dann werden wir durch die Gegend rennen und dauernd irgendwelchen Fremden die Hände schütteln und sie anlächeln müssen, aber ich bete immer, daß sie nicht Schubert spielen. Einmal waren wir abends eingeladen, bei schrecklich wichtigen Leuten, und unsere Gastgeberin legte Schubert auf, eine Klaviersonate, und ich dachte, schalte ich es aus oder gehe ich raus, aber mein Körper entschied das für mich, mir wurde sofort kotzübel, und Gerardo mußte mich nach Hause bringen, und da haben wir sie bei ihrem Schubert sitzengelassen, und keiner wußte, wovon mir so übel war, deshalb bete ich immer, daß da, wo ich hingehe, kein Schubert gespielt wird. Das ist doch wirklich merkwürdig, wo er doch mein Lieblingskomponist war oder sogar noch ist, so eine nobel-melancholische Auffassung des Lebens bei ihm. Ich habe mir immer gesagt, daß ich ihn mir eines schönen Tages zurückholen, sozusagen aus dem Grab zurückholen werde, und wie ich hier so sitze und ihm zusammen mit Ihnen lausche, da weiß ich, daß ich recht hatte, daß ich... — von jetzt ab wird sich viel ändern, nicht wahr? Man muß sich das mal vorstellen: daß ich fast meine ganze Schubert-Sammlung weggeworfen hatte, ist doch verrückt, oder? Und jetzt werde ich wieder meinen Schubert hören können, wie früher, zu Konzerten gehen, bevor ich... — Wußten Sie, daß Schubert homosexuell war? Ach ja, aber natürlich, Sie waren es ja, der es mir immer wieder und wieder ins Ohr flüsterte, während er mir „Der Tod und das Mädchen“ vorspielte. Ist dies die gleiche Kassette, Doktor, oder kaufen Sie sich jedes Jahr eine neue, damit der Klang klar bleibt? Präzis? Sie geht zur Schlafzimmertür und spricht zu Gerardo. Gerardo, du mußt aufstehen. Der Reparaturdienst kann jeden Augenblick kommen. Ist das Quartett nicht wunderschön, mein Schatz? Sie geht zu ihrem Stuhl zurück. Kurz darauf tritt Gerardo auf, noch schläfrig. Guten Morgen, mein Lieber, Tut mir leid, aber das Frühstück ist noch nicht fertig.

Als er Gerardo sieht, macht Jorge verzweifelte Befreiungsversuche. Gerardo starrt voller Unverständnis auf die Szene, die sich ihm bietet.

Gerardo: Paulina! Was ist denn hier los, was zum... bist du verrückt?

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Fortsetzung

Er geht auf Jorge zu. Jorge —, Doktor Miranda. Ich...

Paulina: Faß ihn nicht an.

Gerardo: Was?

Paulina (bedroht ihn mit der Pistole): Faß ihn nicht an.

Gerardo: Was um Himmels willen wird hier gespielt, bist du verrückt — leg sofort das Schießeisen weg, was machst du damit —

Paulina: Er ist es.

Gerardo: Wer?

Paulina: Der Arzt.

Gerardo: Welcher Arzt, sag mal, was—?

Paulina: Der Arzt, der Schubert gespielt hat.

Gerardo: Der Arzt, der Schubert gespielt hat.

Paulina: Genau der Arzt.

Gerardo: Woher weißt du das?

Paulina: Die Stimme.

Gerardo: Aber du warst doch.. du hast mir doch erzählt, dir waren zwei Monate lang...

Paulina: ...die Augen verbunden, ja. Aber hören konnte ich noch.

Gerardo: Du bist krank.

Paulina: Ich bin nicht krank.

Gerardo: Du bist krank.

Paulina: Okay, dann bin ich eben krank. Aber ich kann krank sein und trotzdem eine Stimme wiedererkennen. Ganz nebenbei: Ein verlorengegangener Sinn wird von den anderen Sinnen ersetzt, sie werden schärfer dadurch. So ist es doch, Doktor Miranda, hm?

Gerardo: Die undeutliche Erinnerung an eine Stimme ist kein Beweis, Paulina, das ist kein unumstößlicher Beweis, daß...

Paulina: Es ist seine Stimme. Ich habe sie gestern abend sofort erkannt, als er reinkam. Auch wie er lacht. Die Wörter, die er benutzt.

Gerardo: Aber das ist nicht...

Paulina: Das ist vielleicht nur eine Winzigkeit, aber für mich ist es genug. In all diesen Jahren ist nicht eine Stunde vergangen, in der ich sie nicht gehört hätte, die gleiche Stimme, ganz nahe, neben meinem Ohr, genau hier, diese Stimme, feucht vor Spucke, glaubst du, ich vergesse so eine Stimme? Imitiert die Stimme von Jorge, dann von einem anderen Mann „Los, gib's ihr. Die Sau kann noch mehr vertragen. Gib's ihr.“ „Sind Sie sicher, Doktor? Was, wenn sie uns krepiert?“ „Die ist doch noch nicht mal ohnmächtig. Gib's ihr, zieh' enger.“

Gerardo: Paulina, ich bitte ich, leg die Pistole weg.

Paulina: Nein.

Gerardo: Solange du das Ding auf mich gerichtet hast, ist kein Dialog möglich.

Paulina: Im Gegenteil. Sobald ich nicht mehr auf dich ziele, hört jeder Dialog automatisch auf. Weil du dann deine körperliche Überlegenheit ausspielen würdest, um deinen Standpunkt durchzusetzen.

Geraldo: Paulina, ich möchte, daß du begreifst, daß das, was du tust, sehr sehr ernste Folgen haben wird.

Paulina: Ernste Folgen, aha? Nicht wiedergutzumachende Folgen, was?

Gerardo: Ja, es könnte nicht wiedergutzumachen sein. Dr.Miranda, es tut mit leid, daß diese — meine Frau ist ge...

Paulina: Hör auf! Bitte gefälligst dieses Stück Scheiße nicht um Verzeihung. Siehst du die Hand da, diese Hand da drüben ...

Gerardo: Binde ihn los, Paulina.

Paulina: Nein.

Gerardo: Dann mach' ich es. Er geht auf Jorge zu. Plötzlich löst sich ein Schuß aus Paulinas Pistole. Man sieht deutlich, daß sie die Waffe nicht zu handhaben weiß, da sie ebenso erschrocken ist wie die Männer. Gerardo macht unwillkürlich einen Schritt rückwärts, Jorge ist entsetzt und verzweifelt. Nicht schießen, Pau, bitte schieß nicht noch mal. Gib mir das Ding. Schweigen Das kannst du doch nicht tun.

Paulina: Seit wann erzählst du mir, was ich tun kann und was nicht, tu' dies, tu' das, das kannst du doch nicht tun? Ich hab' es getan.

Gerardo: Du hast es diesem Mann getan, diesem Mann, dessen einziger Fehler — das einzige, wessen du ihn vor einem Gericht beschuldigen kannst —Paulina lacht verächtlich — ja, vor einem Gericht, wie korrupt, käuflich und feige auch immer — das einzige, was du ihm vorwerfen kannst, ist, daß er auf der Autobahn angehalten hat, um jemandem zu helfen, der in Nöten war, mich nach Hause zu bringen und mir dann anzubieten ...

Paulina: Das hätte ich fast vergessen. Der Reparaturdienst muß jeden Moment hier sein. Als ich heut' nacht draußen war, um das Auto deines guten Samariters zu verstecken, hab' ich von einer Telefonzelle aus da angerufen und gesagt, daß wir sie heute früh brauchen. Also zieh dich lieber an. Sie können jeden Augenblick kommen.

Gerardo: Paulina, bitte, können wir nicht vernünftig sein und uns verhalten wie —

Paulina: Du kannst vernünftig sein. Dir haben sie nie etwas getan.

Gerardo: Sie haben mir, natürlich haben sie auch mir — verdammt, wir machen hier doch keinen Wettbewerb um den schlimmsten Horror —, laß uns versuchen, vernünftig zu sein, ich möchte dich bitten, nachzudenken — selbst wenn dieser Mann der Arzt wäre, der er nicht ist, es gibt keinen Grund, warum er es sein sollte, keinen Beweis außerhalb deiner verspannten Phantasie — aber gut, nehmen wir mal an, Phantasie, daß er es ist — selbst dann, Liebes, mit welchem Recht kannst du ihn so fesseln, schau dir doch an, was du tust, denke an die Konsequenzen deines Verhaltens—

Man hört Motorengeräusch von einem vorfahrenden Lastwagen. Paulina läuft zur Tür, öffnet sie halb und ruft nach draußen.

Paulina: Er kommt sofort. Er kommt sofort raus. Sie schließt die Tür, dreht den Schlüssel im Schloß um, zieht die Gardinen vor und schaut Gerardo an. Zieh dich an, schnell. Es ist der Reparaturdienst. Der Ersatzreifen ist draußen. Ich hab' auch den Wagenheber aus seinem Auto genommen. Dann kann Mama unseren behalten.

Gerardo: Du klaust ihm seinen Wagenheber? Kurze Stille Ich bin erstaunt, daß du mir traust. Ich könnte schließlich zur Polizei gehen, oder?

Paulina: Das bezweifle ich. Dafür glaubst du zu sehr an deine eigene Überredungskunst. Und außerdem weißt du, daß ich, wenn die Bullen sich hier zeigen, ich diesem Scheißkerl sofort eine Kugel in den Kopf jagen würde, okay? Gut gezielt. Das ist dir doch klar, oder? Kurze Stille. Und danach würde ich mir die Pistole in den Mund halten und abdrücken.

Gerardo: Oh Gott, meine Kleine, mein Liebes. Ich erkenne dich nicht wieder. Wie ist es nur möglich, daß du so bist, so redest?

Paulina: Erklären Sie meinem Mann, Doktor Miranda, was Sie mit mir gemacht haben, daß ich so — verrückt geworden bin.

Gerardo: Kannst du mir sagen, was du konkret zu tun gedenkst?

Paulina: Nicht ich. Wir beide. Du und ich. Wir werden über ihn Gericht halten, Gerardo. Wir halten über ihn Gericht. Du und ich. Oder meinst du, daß deine berühmte Untersuchungskommision es tun wird?

Das Licht geht langsam aus, während die Musik weiterläuft.

Gerardo: Um das absolut sicher zu erreichen, muß man ihn umbringen, und in dem Fall können wir uns gegenseitig am Arsch lecken. Laß ihn gehen, Paulina. Um des Landes willen, um unserer selbst willen.

Paulina: Und ich? Was brauche ich? Sieh' mich an, sieh' mich an!

Gerardo: Sieh' dich doch selbst an, Liebste, sieh' dich doch an. Du bist immer noch gefangen, du bist bei ihnen geblieben, in jenem Keller. Fünfzehn Jahre lang hast du nichts aus deinem Leben gemacht. Nichts. Sieh' dich an. Wir haben jetzt die Chance, noch einmal ganz neu anzufangen, und du fängst an, in den Wunden der Vergangenheit zu wühlen. Sieh' dich doch mal an: bedrohst einen Arzt, der mit dem Auto anhielt, als er einen anderen am Straßenrand in Not sah. Ist es denn nicht Zeit, daß wir ...

Paulina: ... vergessen? Du willst, daß ich vergesse?

Gerardo: Befreie dich von ihnen, Paulina, das ist es, was ich von dir will.

Paulina: Und ihn laufen lasse, damit er in ein paar Jahren wiederkommen kann?

Gerardo: Ihn laufen läßt, damit er nie wieder kommt.

Paulina: Und wir sehen ihn dann manchmal bei Tavelli und lächeln ihn an, er stellt uns seine reizende Frau vor und wir lächeln und sagen, wie schön das Wetter ist für die Jahreszeit und ...

Gerardo: Anlächeln brauchen wir ihn nicht — aber — ja, im Wesentlichen ist es das, was wir tun müssen. Und anfangen zu leben, das vor allem.

Paulina: Guck mal, Gerardo, wenn es also so ist, daß wir nicht so sind wie der Herr da drinnen, daß wir, du und ich und die Mehrheit der Bürger dieses Landes, nicht einsehen wollen, daß jemand, nur weil er mehr Waffen hat als jemand anderes, seinen Standpunkt allen aufoktroyieren kann — dann schlage ich vor, daß wir einen Kompromiß machen.

Gerardo: Ich weiß nicht, wovon du redest.

Paulina: Kompromiß, eine Einigung, verhandeln wir. Du machst Abstriche und ich mache Abstriche. In diesem Land funktioniert doch jetzt alles nach Konsens, oder? Das ist es doch, worum es bei diesem Übergang jetzt angeblich geht. Wir kriegen Demokratie, und sie behalten die Kontrolle über die Wirtschaft und die Streitkräfte? Die Kommission darf Verbrechen untersuchen, aber keiner soll bestraft werden? Man darf alles sagen, was man will — solange man nicht sagt, was man will? Kurze Stille Du siehst also, ich bin nicht so unverantwortlich oder... krank, ich schlage vor, daß wir uns einigen. Keiner kriegt alles, aber beide kriegen etwas. Du willst, daß dieser Mann physisch unversehrt freigelassen wird, und ich will — möchtest du wissen, was ich will?

Gerardo. Das würde ich liebend gerne. Was willst du?

Paulina: Als ich gestern abend seine Stimme wiederhörte, war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf ging, daß das, was ich all die Jahre gedacht habe, immer dann, wenn du mich mit diesem Blick erwischt hast, von dem du sagtest, er sei — abstrakt, weggetreten ... weißt du, woran ich gedacht habe? Ihnen anzutun, was sie mir angetan haben, systematisch, Minute um Minute, mit einem Werkzeug nach dem anderen. Und ganz besonders ihn, dem Doktor ... Denn die anderen waren nur vulgär — er aber spielte Schubert, sprach über Wissenschaft, zitierte einmal sogar Nietzsche.

Gerardo: Nietzsche.

Paulina: Ich war selbst entsetzt über mich. Daß in mir so viel Haß sein sollte, daß ich so etwas einem schutzlosen Menschen antun können sollte, egal wie widerlich er ist — aber es war die einzige Art, wie ich abends einschlafen konnte, der einzige Weg, der mich mit dir zu Cocktailparties gehen ließ trotz der Tatsache, daß ich mich bei jeder Person, die anwesend war, fragen mußte, ob einer von ihnen — vielleicht nicht ausgerechnet mich ... gefoltert hat, oder ob es nicht einer von ihnen getan hat —, und damit ich nicht völlig durchdrehte und ich das Tavelli-Lächeln weiter lächeln konnte, von dem du sagst, daß ich es weiter und weiter lächeln muß, ja, deshalb stellte ich mir vor, wie ich einen Kopf in einen Eimer mit Schleim drücke oder mit Strom; oder wenn wir gevögelt haben, und ich fühlte, wie sich ein Orgasmus in mir aufbaute — der schiere Gedanke an Wellen von Energie, die durch meinen Körper laufen, erinnerte mich wieder daran, und ich... und dann mußte ich simulieren, damit du nicht mitkriegst, woran ich denke, damit du dich nicht als Versager fühlst — oh, Gerardo.

Gerardo: Oh Gott, mein Liebling, meine Liebe.

Paulina: Als ich seine Stimme wieder hörte, dachte ich, das einzige, was ich will, ist, daß er vergewaltigt wird, daß jemand ihn fickt, das war, was ich gedacht habe, daß er wenigstens ein einziges Mal spüren soll, wie das ist ... Kurze Stille Und weil ich ihn nicht vergewaltigen kann, dachte ich, daß das eine Bestrafung ist, die du ausführen mußt.

Gerardo: Hör' auf, Paulina.

Paulina: Und dann habe ich mir gesagt, daß es für dich nicht so einfach wäre, bei diesem Plan mitzumachen, denn schließlicn bräuchtest du dafür ein gewisses Maß an Enthusiasmus, um ...

Gerardo: Hör auf, Paulina.

Paulina: Und dann habe ich mich gefragt, ob wir nicht einen Besen nehmen könnten. Ja, einen Besen, Gerardo, du weißt schon, einen Besenstiel. Aber dann begriff ich, daß es nicht das war, was ich wirklich wollte — etwas so Körperliches. Und weißt du, zu welchem Ergebnis ich schließlich gekommen bin, was ich als einziges wirklich will? Pause Ich will, daß er gesteht. Ich will, daß er vor diesem Tonband sitzt und mir erzählt, was er getan hat — nicht nur mir, alles und jedem — und daß er es dann in seiner eigenen Handschrift niederschreibt, und es dann unterschreibt, und ich hätte eine Kopie davon, die ich für immer behalten würde, mit allen Namen, allen Details, mit Namen, Daten, und Informationen, die sogar deiner Kommission womöglich helfen könnten, denn er hatte Recht, als er gestern abend sagte, daß weder Militärs noch Zivilisten, mit denen er zusammengearbeitet hat, als Zeugen gegen ihn auftreten würden. Das ist es, was ich will.

Gerardo: Er gesteht, und du läßt ihn gehen.

Paulina: Ja, ich lasse ihn gehen.

Gerardo: Und das ist alles, was du von ihm willst, nichts mehr?

Paulina: Kein bißchen mehr. Pause Siehst du nicht, mein Lieber, daß dies auch eine Möglichkeit ist, dich zu schützen. Mit Mirandas Geständnis in meiner Hand wärst du sicher, du könntest Mitglied der Kommission bleiben, und er könnte uns nicht einmal einen seiner Henkersknechte schicken, weil er wüßte, daß, wenn uns etwas geschieht, sein Geständnis am nächsten Tag in allen Zeitungen stünde.

Gerardo: Und du erwartest von mir, daß ich dir glaube, daß du ihn wirklich gehen läßt, nachdem er gestanden hat? Du erwartest, daß er dir glaubt, daß du ihn nicht über den Haufen knallst, sobald er gestanden hat?

Paulina: Ich sehe für euch beide keine Alternative. Hör zu Gerardo, man muß solchen Kerlen Angst einjagen. Erzähl' ihm, daß ich sein Auto versteckt habe, weil ich vorhabe, ihn umzubringen. daß der einzige Weg, mich davon abzubringen, sein Geständnis ist. Sag's ihm. Sags' ihm. Sag' ihm, daß keine Menschenseele weiß, daß er gestern abend zu uns gekommen ist, daß kein Mensch ihn je finden wird. Um seinetwillen hoffe ich, daß du ihn überzeugen kannst.

Gerardo: Ich soll ihn überzeugen?

Paulina: Ich würde sagen, daß das doch angenehmer ist, als ihn zu ficken.

Gerardo: Da gibt es natürlich noch ein Problem, Paulina, an das du vielleicht nicht gedacht hast. Was, wenn er nichts zu gestehen hat.

Paulina: Wenn er nicht gesteht, bring ich ihn um. Sag' ihm, daß ich, wenn er nicht gesteht, das Schwein umbringe.

Gerardo: Aber was, wenn er unschuldig ist?

Paulina: Ich habe es nicht eilig. Sag ihm, daß ich ihn hier monatelang festhalten kann. Bis er gesteht.

Gerardo: Paulina, du hörst mir nicht zu. Was kann er gestehen, wenn er unschuldig ist?

Paulina: Wenn er unschuldig ist, dann ist er wirklich am Arsch geleckt.

Das Licht geht langsam aus.

Ende der Ersten Szene

Obwohl Jorge dabeibleibt, unschuldig zu sein, gelingt es Gerardo, ihn zu einem Geständnis zu überreden. Gerardo soll zunächst alle Details von Paulina erfragen, sie dann Jorge erzählen, der sie dann „gestehen“ will (Zweite Szene).

Dritter Akt

Der dritte Akt beginnt damit, daß Gerardo die zögernde Paulina dazu bringt, ihm alle Einzelheiten der Folter zu erzählen. Im Verlauf der ersten Szene kommt dabei auch zur Sprache, daß Gerardo Paulina mit einer anderen Frau betrog, während sie in Haft war. Schließlich beginnt Paulina zu erzählen, Gerardo nimmt ihre Aussage auf Band auf — und schließlich wird ihre Stimme in der Dunkelheit der Bühne von Jorges Stimme abgelöst, der ihren Bericht fortführt.

Im Morgengrauen des nächsten Tages sieht man den von seinen Fesseln befreiten Jorge sein Tonbandgeständnis mitschreiben und signieren. Während Gerardo aus dem Haus geht, um das Auto zu holen, bleibt Paulina mit Jorge Miranda allein im Zimmer.

Jorge: Wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich zur Toilette. Ich nehme doch an, daß auch Sie jetzt keinen Grund mehr haben, mich zu begleiten?

Paulina: Keine Bewegung, Doktor. Es gibt das noch eine Kleinigkeit.Pause Es wird ein unglaublich schöner Tag heute. Wissen Sie, was das Einzige ist, was noch fehlt, Doktor, das Einzige, was ich tun müßte, um diesen Tag vollkommen zu machen? Sie umbringen. Damit ich meinen Schubert wieder hören kann, ohne denken zu müssen, daß auch Sie ihn hören, ohne daß Sie meinen Tag beschmutzen, meine Möwen und meinen Schubert und mein Land und meinen Mann. Das ist es, was ich brauche ...

Jorge (steht brüsk auf): Madame, Ihr Mann ist gegangen im Vertrauen auf Ihre ... Sie haben Ihr Wort gegeben ...

Paulina: Genau, Doktor. Aber als ich mein Wort gab ... da hatte ich noch einen leisen Zweifel ... die allerwinzigste Winzigkeit eines Zweifels, aber immerhin: Zweifel, Doktor, ob Sie wirklich jener Mann sind. Denn Gerardo hatte auf seine Weise Recht. Beweise, harte Beweise ... — nun ja, ich hätte mich ja irren können. Aber ich wußte, daß, wenn Sie gestehen... — und als ich Sie hörte, verschwanden alle Zweifel und ich begriff, daß ich Sie vernichten muß. Jetzt, wo ich es weiß, wo ich Tausend Prozent sicher bin, daß Sie dieser Mann sind, könnte ich nicht in Frieden mit mir leben und Sie am Leben lassen. Sie richtet die Pistolenmündung auf ihn. Sie haben eine Minute, Doktor, um zu beten und wirklich zu bereuen.

Jorge: Nein, nicht, tun Sie's nicht. — Ich bin unschuldig.

Paulina: Sie haben gestanden, Doktor.

Jorge: Das Geständnis, Madame ... Es ist falsch.

Paulina: Falsch? Was soll das heißen, — ich...

Jorge: Ich habe das Geständnis erfunden, wir haben es erfunden ...

Paulina: Mir schien es ziemlich wahr, Doktor, und soweit es mich betrifft, schrecklich bekannt ...

Jorge: Ihr Mann sagte mir, was ich schreiben soll, einiges habe ich erfunden, einiges ist von mir erfunden, aber das meiste war das, was er von Ihnen hatte, was er wußte, was Ihnen passiert war, Madame, damit Sie mich gehen lassen, er hat mich davon überzeugt, daß das der einzige Weg ist, damit Sie mich nicht umbringen, und ich mußte ... Sie müssen doch am besten wissen, wie man unter Druck alles sagt, aber ich bin unschuldig, Madame, Gott im Himmel weiß, daß ich unschuldig bin ...

Paulina: Lassen Sie Gott aus dem Spiel, Doktor, zumal jetzt, wo Sie bald rausfinden, ob es ihn gibt oder nicht. Stud, Doktor.

Jorge: Ich habe nie ...

Paulina: In Ihrem Geständnis erwähnen Sie mehrere Male Stud, er muß ein ziemlich großer Kerl gewesen sein, stark, er biß sich die Fingernägel, nicht wahr, ich kenne sein Gesicht nicht, aber er war ein muskulöser Mann. Und er biß sich seine verdammten Fingernägel an seinen verdammten Händen ...

Jorge: Ich habe so jemanden nie getroffen. Niemanden, der so hieß. Ihr Mann hat mir diesen Namen gegeben, alles, was ich gesagt habe, kam von Ihrem Mann, der mir half, alles zu erfinden ... Fragen Sie ihn, wenn er zurückkommt, er kann es Ihnen erklären.

Paulina: Er hat gar nichts zu erklären. Ich wußte, daß er das tun würde, um ihr Leben zu retten und um mich zu schützen, damit ich Sie nicht umbringe, ich wußte, daß er meine Worte für Ihr Geständnis gebrauchen würde. So ist er. Er meint immer, er sei schlauer als alle anderen, er meint immer, er müßte jemanden retten. Ich werfe es ihm nicht vor, Doktor. Ich liebe ihn ja darum. Wir haben uns gegenseitig angelogen, weil wir uns lieben. Denn in diesem Land ist die Wahrheit so tief vergraben, daß die einzige Möglichkeit, sie ans Licht zu bringen, Täuschung, Betrug und Tricks sind. Er hat mich um meinetwillen betrogen. Und ich habe ihn um seinetwillen getäuscht. Aber ich bin bei diesem Spiel Sieger geblieben. Ich habe ihm den Namen Bud gesagt, einen Mann mit dem Spitznamen Bud erwähnt, ich habe ihm einen falschen Namen gegeben, Doktor, um zu sehen, ob Sie ihn wohl korrigieren würden. Und Sie haben ihn korrigiert, Sie haben den Namen Bud berichtigt und Stud gesagt, und wenn Sie unschuldig wären, hätten Sie nie im Leben den wahren Namen dieses Ungeheuers wissen können...

Jorge: Ein reiner Zufall, das ist doch natürlich, daß ich dachte, daß so einer nicht Bud sondern Stud heißt...

Paulina: Das ist nicht das einzige, was Sie berichtigt haben in der Version, die ich meinem Mann gegeben hatte, Doktor. Ich hatte noch mehr Abweichungen eingebaut...

Jorge: Was für Abweichungen, was für Abweichungen denn?

Paulina: ...kleine Abweichungen, kleine Variationen, unbedeutende Fehler, die ich in meine Geschichte Gerardo gegenüber eingebaut hatte, und meistens — nicht immer, aber oft genug ... so wie in dem Fall von Stud, haben Sie sie berichtigt, die falsche Erinnerung, die ich Gerardo gegeben batte, durch die richtige ersetzt, so wie Ihr Gedächtnis es festgehalten hat. Es lief genau so, wie ich es geplant habe. Sie hatten große Angst davor, einen Fehler zu machen, und dann ... Aber ich werde Sie nicht umbringen, weil Sie schuldig sind, Doktor, sondern weil Sie gelogen haben, weil Sie nicht im geringsten bereut haben. Ich kann nur jemandem vergeben, der wirklich bereut, der von all diesen Verbrechern aufsteht und sagt, ich habe es getan, ich habe es getan, und ich werde es nie wieder tun.

Jorge: Was wollen Sie denn noch? Sie haben mehr bekommen, als die Opfer in diesem Land jemals kriegen werden. Einen Menschen, der gestanden hat, Ihnen zu Füßen, gedemütigt ..., er kniet sich hin ... der um sein Leben bettelt. Was wollen Sie noch?

Paulina: Ich will, daß Sie wirklich gestehen. Ich will, daß Gerardo weiß, daß Sie der Doktor sind, der Schubert gespielt hat, damit er nicht von der Kommission zurücktritt, damit er weiß, daß seine Frau nicht ganz so krank, nicht ganz so irrational, nicht ganz so unverantwortlich ist. Die Wahrheit, Doktor. Die Wahrheit, und ich lasse Sie gehen, frei — wie Kain nach dem Mord an seinem Bruder. Keiner wagte, Kain ein Haar zu krümmen, nachdem er bereut hatte, deshalb hat Gott ihn gezeichnet. Gestehen Sie und ich lasse Sie gehen. Sie schaltet das Tonband ein. Sie haben zehn Sekunden. Eins — zwei — drei — vier — fünf — sechs — sieben — acht. Die Zeit läuft, Doktor. Gestehen Sie!

Jorge (steht auf): Nein, das werde ich nicht. Selbst wenn ich jetzt ein Geständnis ablege, Sie wären nie zufrieden. Sie würden mich trotzdem umbringen, und sie wollen es tun können, ohne sich später Vorwürfe machen zu müssen. Also los, bringen Sie mich um. Sie haben genug mit mir gespielt und mit Ihrem Mann. Ich werde einer Verrückten nicht erlauben, so mit mir umzugehen. Wenn Sie mich umbringen wollen, dann tun Sie es. Aber Sie töten einen Unschuldigen.

Paulina (schaltet das Tonband ab): Glauben Sie bloß nicht, daß mich dieser letzte Versuch, in Edelmut zu machen, rührt, Doktor. — Neun.

Jorge: Machen wir also weiter mit der Gewalt, immer weiter, Gewalt, Gewalt. Gestern hat man Ihnen Schreckliches angetan und heute tun Sie mir Schreckliches an, und morghen fängt der gleiche Kreislauf wieder von vorn an. Ist es nicht an der Zeit, damit irgendwann einmal aufzuhören?

Paulina: Und warum müssen es immer Leute wie ich sein, die aufhören müssen, warum sind immer wir diejenigen, die ... warum sollen immer wir Konzessionen machen, wenn es um Konzessionen geht, warum immer ich, die sich auf die Zunge beißen muß — warum? Nein, diesmal nicht. Diesmal werde ich selbst an mich denken, daran, was ich brauche. Ich will nicht den Rest meines Lebens damit verbringen zu wissen, daß ich Sie in der Hand hatte, daß ich Sie bestrafen konnte und Sie aus meinem Gedächtnis reißen, und daß es Sie immer noch gibt, zufrieden und ein Liedchen pfeifend, irgendwo, und daß ich Sie in der Hand hatte — ein Mensch, ein einziger, wenn nur ein einziger Mensch der Gerechtigkeit zu ihrem Recht verhilft, in einem einzigen Fall. Was verlieren wir? Was verlieren wir, wenn wir nur einen einzigen von ihnen umbringen? Was verlieren wir? Was verlieren wir?

Die Szene endet mit diesem Bild; langsam geht das Licht aus und ein Mozart-Quartett erklingt. Ein großer Spiegel verdeckt Jorge und Paulina; nach einigen Minuten erscheinen Gerardo und Paulina als Konzertbesucher auf der Bühne und setzen sich auf Stühle vor dem Spiegel oder auch in die erste Reihe des Zuschauerraums. — Die zweite und letzte Szene des dritten Aktes zeigt eine Konzertpause, in der Gerardo mit anderen Besuchern spricht. Es ist ein Monolog, in dem er mit politischen Phrasen und persönlichen Anekdoten auf Komplimente für den Abschlußbericht seiner Kommission reagiert. Paulina geht währenddessen beiseite, um etwas zu kaufen; als sie sich wieder umdreht, steht sie vor Jorge, der von einem Lichtschein unmgeben ist und sich nicht bewegt. Ohne panisch zu werden, versucht sie, an ihm vorbei zu Gerardo zu kommen, der weiterhin redet. Jorge bewegt sich mit ihr, als wäre er ihr Spiegelbild, verstellt ihr teilweise den Weg, bleibt dann jedoch zurück. Das Konzert beginnt wieder, Jorge ist jetzt auch im Zuschauerraum und blickt unverwandt auf Paulina. Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ erklingt. Gerado schaut Paulina an, dann mit ihr zusammen zur Bühne. Paulina sieht abwechselnd, aber langsam und ruhig, nach vorn zur Bühne und seitwärts zu Jorge, der sie weiter anblickt. Während die Musik immer weiter spielt, gehen die Lichter aus. — Schluß —)

Zweiter Akt

Erste Szene

Mittags. Jorge liegt noch in der gleichen Haltung da, Paulina hat ihm den Rücken zugewandt und sieht durch das Fenster auf das Meer, während sie mit ihm spricht, wiegt sie sich leicht hin und her.

Paulina: Und als sie mich freiließen, — wissen Sie, zu wem ich da ging? Zu meinen Eltern konnte ich nicht, ich hatte schon lange jede Beziehung mit ihnen abgebrochen, weil sie nämlich für das Militärregime waren. Nur meine Mutter sah ich ab und zu. Ist das nicht grotesk, daß ich Ihnen das alles erzähle — als wären Sie mein Beichtvater, wo es sogar Dinge gibt, die ich nicht einmal Gerardo erzähle, oder meiner Schwester, und erst recht nicht meiner Mutter, die würde ja sterben, wenn sie wüßte, was mir wirklich im Kopf herumgeht. Und Ihnen kann ich erzählen, wie es mir ging, wie es mir ging, als sie mich freiließen. — An jenem Abend war ich... naja, ich brauche Ihnen ja nicht zu schildern, in welchem Zustand ich war, Sie haben mich ja vor meiner Entlassung gründlich untersucht, nicht wahr?

Ist doch gemütlich hier mit uns. Wie zwei alte Rentner, die auf einer Bank in der Sonne sitzen. Jorge macht eine Bewegung, als ob er sprechen oder sich losbinden wollte. Hungrig? So schlimm ist das nicht. Sie müssen nur noch ein wenig Geduld haben bis Gerardo wiederkommt. Imitiert eine männliche Stimme „Hungrig? Willste was essen? Du kleine Fotze, ich geb' dir gleich was großes, dickes zum Reinschieben, dann kannste vergessen, daß de Hunger hast.“ Wieder mit ihrer eigenen Stimme Über Gerardo wissen Sie nichts, oder? — Ich meine, Ihr habt nie etwas gewußt. Ich habe seinen Namen nicht gesagt. Ihre... Kollegen haben mich gefragt, „Mit der hübschen Fassade, meine Kleine, kannst du uns nicht erzählen, daß du keinen zum Ficken hast, eh. Na los, erzähl uns schon, wer dich fickt, Madame. Wir sollen dir doch nicht etwa abnehmen, daß da nicht irgendwo ein Hengst rumläuft, der scharf auf dich ist, eh?“ — Aber ich habe Gerardo nicht verraten. Schon komisch, wie das alles gelaufen ist. Hätte ich euch Gerardos Namen gegeben, dann wäre er jetzt nicht in irgendeiner Untersuchungskommission, sondern er wäre einer von denen, dessen Schicksal irgendein anderer Anwalt untersuchen müßte. Und ich würde vor die Kommission geladen und ihnen erzählen, wo ich Gerardo das erste Mal gesehen habe. — Ich habe ihn übrigens kurz nach dem Militärputsch getroffen, als er half, Menschen in ausländischen Botschaften unterzubringen, die um Asyl baten. Ich habe zusammen mit ihm Leben gerettet, Menschen außer Landes geschmuggelt, so daß sie vor ihren Mördern sicher waren. Ich war ganz schön mutig, hatte keine Angst, war bereit, alles zu tun. Ich kann kaum glauben, daß ich damals kein Quentchen Angst in meinem Körper hatte. Aber jetzt schweife ich wirklich ab — als ich in jener Nacht bei Gerardo ankam, klopfte ich an die Tür, genauso wie Sie gestern abend, und als Gerardo schließlich öffnete, sah er so — aufgeregt aus, sein Haar war ganz durcheinander und er... Motorengeräusch eines Autos von draußen. Man hört eine Autotür öffnen, dann schließen. Paulina geht zum Tisch und nimmt die Pistole. Gerardo tritt ein. Na, wie ist es gegangen? War der Platte leicht zu reparieren?

Gerardo: Paulina, du wirst mir jetzt einmal zuhören.

Paulina: Natürlich werde ich dir zuhören. Habe ich dir nicht immer aufmerksam zugehört?

Gerardo: Setz dich hin. Ich möchte, daß du dich hinsetzt und mir zuhörst, mir wirklich und ernstlich zuhörst. Paulina setzt sich. Du weißt, daß ich einen Großteil meines Lebens damit verbracht habe, Recht und Gesetz zu verteidigen. Wenn mich etwas angeekelt hat beim Militärregime...

Paulina: Du kannst sie ruhig Faschisten nennen...

Gerardo: Unterbrich mich nicht. Wenn mich etwas angeekelt hat, dann war es, daß sie so viele Frauen und Männer beschuldigt haben, und daß dann die gleichen Leute, die sie anklagten, sie auch verurteilt und umgebracht haben, Beweise gefälscht, Gegenbeweise ignoriert und den Verdammen nicht die kleinste Garantie, nicht die allerkleinste Chance gaben, sich zu verteidigen, ihre eigene Stimme zu ihrer Verteidigung zu erheben. Also: Selbst wenn dieser Mann hier das schlimmste Verbrechen unter der Sonne begangen hat, — er hat das Recht, sich zu verteidigen.

Paulina: Aber Gerardo, ich habe gar nicht vor, ihm dieses Recht zu nehmen. Ich werde dir alle Zeit der Welt geben, dich mit deinem Klienten in Ruhe zu besprechen, allein mit ihm. Ich habe nur darauf gewartet, daß du zurückkommst, damit wir dann ganz ordentlich und offiziell anfangen können. Sie erlaubt Gerardo mit einer Geste, Jorge den Knebel abzunehmen. Dann zeigt sie auf den Kassettenrecorder. Doktor, Sie sollen wissen, daß alles, was Sie sagen, hiermit aufgenommen wird.

Gerardo: Mein Gott, Paulina, sei still. Laß ihn sagen, was er...

Kurze Stille. Paulina schaltet das Gerät ein.

Jorge (hustet, dann mit rauher Stimme) Wasser.

Gerardo: Was?

Paulina: Er möchte Wasser, Gerardo. Gerardo holt eilig ein Glas Wasser und gibt es Jorge zu trinken. Jorge stürzt es geräuschvoll in sich hinein) Gibt doch nichts Schöneres als ein Glas gutes frisches Wasser, hm? Besser als die eigene Pisse trinken.

Jorge: Escobar. Hierfür gibt es keine Entschuldigung. Solange ich lebe, werde ich Ihnen das nicht verzeihen.

Paulina: Halt, stop. Moment mal, Doktor. Lassen Sie uns doch gleich mal kontrollieren, ob das Ding funktioniert. Sie drückt einige Tasten, dann hört man Jorges Stimme.

Jorges Stimme vom Kassettenrecorder: Escobar. Hierfür gibt es keine Entschuldigung. Solange ich lebe, werde ich Ihnen das nicht verzeihen.

Paulinas Stimme vom Kassettenrecorder: Halt, stop. Moment mal, Doktor. Lassen Sie uns —

Paulina (hält das Band an): Gut, nimmt wunderbar auf. Als erstes haben wir jetzt schon eine Stellungnahme über das Verzeihen. Es handelt sich hier um Doktor Mirandas Meinung, daß es keine Entschuldigung gibt, daß er, solange er lebt, nicht verzeihen wird, wenn jemand gegen seinen Willen für einige Stunden gefesselt wird und einige Stunden lang ohne das Recht zu sprechen bleibt. Dem stimmen wir zu. Weiter? Sie drückt wieder eine Taste.

Jorge: Meine Dame, ich kenne Sie nicht. Ich habe Sie nie zuvor in meinem Leben gesehen. Aber ich kann Ihnen versichern: Sie sind sehr sehr krank, nahezu prototypisch schizophren. Aber Sie, Escobar, Sie sind nicht krank. Sie sind Anwalt, ein Verteidiger der Menschenrechte, ein Mann, der unter dem Militärregime verfolgt worden ist, wie auch ich, und Ihr Fall liegt anders. Sie sind verantwortlich für das, was Sie tun, und was Sie in dieser Lage zu tun haben, ist, mich sofort loszubinden. Sie begreifen ja wohl, daß Sie mit jeder Minute, die vergeht, sich mehr und mehr in die Komplizenschaft dieses kriminellen Verhaltens verstricken und deshalb für die Konsequenzen dessen einstehen...

Paulina (setzt die Piostolenmündung an seine Schläfe): Wem wollen Sie drohen?

Jorge: Ich habe niemandem...

Paulina: Gedroht, allerdings haben Sie gedroht. Damit wir uns richtig verstehen, Doktor. Die Zeit der Drohungen ist vorbei. Da draußen geben Schweine wie Ihr vielleicht immer noch Befehle, aber hier drinnen habe ich zur Zeit das Kommando. Ist das klar?

Jorge: Ich muß zur Toilette.

Paulina: Pissen oder scheißen?

Gerardo: Mein Gott, Paulina! Doktor Miranda, sie hat noch nie in ihrem Leben so eine Sprache...

Paulina: Der Doktor ist an so eine Sprache gewöhnt... Na los, Doktor, vorne oder hinten?

Jorge: Im Stehen.

Paulina: Ich bringe ihn.

Gerardo: Das tust du selbstverständlich nicht. Ich bringe ihn.

Paulina: Ich mach es. Guck mich nicht so an. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, daß er sein Ding vor meinen Augen rausholt, Gerardo. Los, Doktor. Stehen Sie schon auf. Ich möchte nicht, daß Sie mir meinen Teppich vollpissen. Gerardo, nimm ihm die Beinfesseln ab. Gerardo nimmt ihm die Beinfesseln ab. Langsam und unter Schmerzen humpelt Jorge zum Badezimmer. Paulina drückt ihm die Pistole in den Rücken. Gerardo, tu mir den Gefallen und schalte das Band ab. Gerardo schaltet das Tonband ab. Paulina geht mit Jorge raus. Dann hört man Pinkelgeräusche, am Ende Wasserrauschen. Währenddessen geht Gerardo nervös auf und ab. Paulina kommt mit Jorge zurück. Binde ihn wieder. Gerardo bindet Jorges Beine wieder zusammen. Fester, Gerardo!

Gerardo: Paulina, das ist ja unerträglich. Ich muß mit dir reden.

Paulina: Was hält dich davon ab?

Gerardo: Alleine.

Paulina: Warum sollen wir das hinter Doktor Mirandas Rücken tun? Sie haben immer alles in meiner Gegenwart besprochen, sie —

Gerardo: Liebe, liebe Pau, bitte mach es mit noch so schwer.Gerardo und Paulina gehen auf die Terasse hinaus. Während sie miteinander sprechen, gelingt es Jorge, langsam seine Beinfesseln wieder zu lockern. was willst du? Was um Himmelswillen willst du eigentlich mit diesem Wahnsinn erreichen?

Paulina: Das hab ich dir doch schon gesagt: Gericht über ihn halten.

Gerardo: Gericht über ihn halten, Gericht über ihn halten ... aber was soll das heißen, Gericht über ihn halten? Wir können doch nicht ihre Methoden anwenden. Wir sind anders. Sich auf diese Art zu rächen ist nicht ...

Paulina: Das ist keine Rache. Ich gebe ihm alle Garantien, die er mir nie gegeben hat. Nicht eine, er und seine — Kollegen.

Gerardo: Und seine „Kollegen“, willst du dann als nächstes sie kidnappen und herbringen und fesseln und...

Paulina: Dazu müßte ich wohl erst ihre Namen haben, oder?

Gerardo: — und dann würdest du sie...

Paulina: Sie umbringen? Ihn umbringen? Da er mich nicht umgebracht hat, wäre das wahrscheinlich nicht fair, ihn —

Gerardo: Gut zu wissen, Paulina, weil du mich sonst auch umbringen müßtest — ich warne dich: wenn du vorhast, ihn zu erschießen, dann mußt du vorher noch mich erschießen.

Paulina: Könntest du dich vielleicht etwas beruhigen? Ich habe nicht im geringsten vor, ihn umzubringen. Und dich nun erst recht nicht ... Aber, wie üblich, glaubst du mir wieder nicht.

Gerardo: Aber was willst du ihm tun? Mit ihm tun? Du wirst — was machen? Was hast du vor? — Und all das, weil dich vor fünfzehn Jahren jemand ...

Paulina: Mich jemand was ...? Was? Was haben sie mit mir gemacht, Gerardo. Sag es. Kurze Stille Du wolltest es nie aussprechen. Sag es jetzt. Sie ...

Gerardo: Wenn du es selber nicht aussprechen wolltest, wie hätte ich es dann tun können?

Paulina: Sprich es jetzt aus.

gerardo: Ich weiß nur, was du mir in jener ersten Nacht erzählt hast, als...

Paulina: Sie ...

Gerardo: Sie ...

Paulina: Sag es, sag es.

gerardo: Sie ... haben dich gefoltert. Jetzt sag du es.

Paulina: Sie haben mich gefoltert. — Und weiter? Kurze Stille Was haben sie noch mit mir gemacht, Gerardo?

Gerardo (geht zu ihr und nimmt sie in die Arme, flüstert): Sie haben dich vergewaltigt.

Paulina: Wie oft?

Gerardo: Mehr als einmal.

Paulina: Wie oft?

Gerardo: Das hast du nie erzählt. Du hast gesagt, du hast es nicht gezählt.

Paulina: Stimmt nicht.

Gerardo: Was stimmt nicht?

Paulina: Daß ich nicht mitgezählt habe. Ich habe alles mitgezählt. Ich weiß, wie oft es war. Kurze Stille Und in jener Nacht, Gerardo, als ich dir erzählte, als ich anfing mit dem Erzählen, was hast du da geschworen, was du mit ihnen machen würdest, wenn du sie je fändest? „Eines Tages, mein Liebling, werden wir diese Schweine vor Gericht bringen. Du wirst deine Augen — ich einnere mich genau an deine Formulierung, weil sie so poetisch klang — du wirst deine Augen auf ihren Gesichtern haben, während sie deiner Geschichte zuhören müssen. Das werden wir machen, du wirst sehen, das wird geschehen.“ Und jetzt, mein Liebster, sage mir, an wen ich mich jetzt wenden soll —

Gerardo: Das war vor fünfzehn Jahren.

Paulina:Sage mir, wer meine Anklage gegen diesen Arzt jetzt hören will. Wer, Gerardo? Deine Kommission?

Gerardo: Nein. — Meine Kommission? Welche Kommission? Dank dir werden wir womöglich all die anderen Verbrechen nicht untersuchen können, die ... — und ich werde sowieso zurücktreten müssen.

Paulina: Wer wird denn gleich so melodramatisch sein. Deine Augenbrauen sind ja ganz hochgerutscht, und deine Stirnfalten lassen dich gleich zehn Jahre älter aussehen. Die Leute werden dein Foto in den Zeitungen sehen und nicht glauben können, daß du das jüngste Mitglied der Kommission bist.

Gerardo: Bist du taub? Ich habe gerade gesagt, ich werde zurücktreten müssen.

Paulina: Ich sehe nicht, warum.

Gerardo: Du siehst nicht, warum — aber das ganze Land wird sehen, warum, und besonders die, die sowieso die Vergangenheit nicht untersucht sehen wollen, werden sehen warum. Ein Mitglied der Kommission des Präsidenten, das jeden einzelnen Fall extremer Gewaltanwendung aus den letzten Jahren aufzuklären hat, ein Mitglied, das beispielhaft moderat und leidenschaftslos ...

Paulina: Wir werden an so viel Leidenschaftslosigkeit noch ersticken.

Gerardo: ...und objektiv sein muß, wenn solch ein Mann zugelassen hat, daß in seinem eigenen Haus ein unschuldiger Mensch gefesselt und gequält wird, ein Mensch, gegen den nicht das kleinste Fitzelchen eines Beweises vorliegt, das vor Gericht...

Paulina: Die Gerichte...

Gerardo: Nicht vor unseren Gerichten, die kotauen und sich am Kopfe kratzen ... vor keinem Gericht dieser Welt, Paulina ..., du kennst doch die Zeitungen, die sich der Diktatur unterworfen hatten, du kannst dir doch vorstellen, wie sie diese Geschichte nutzen werden, um die Kommission zu unterminieren und sogar zu Fall zu bringen. Kurze Stille. Du begreifst offenbar nicht, daß du mit deiner besessenen Rachsucht dem General hilfst, ihm und seinen Plänen für ein Comeback. Jede Minute, die jetzt verstreicht, jede Sekunde, die du diesen armen Teufel gefesselt hältst, macht es schwerer, die Kommission zu retten. Binde ihn los, Paulina. Entschuldige dich für deinen Fehler und laß ihn gehen. Er ist jemand, der — von der Art, wie er mit mir sprach — scheint er demokratisch gesonnen, so daß er vielleicht...

Paulina: Oje, mein Kleiner, du fällst ja auf die billigsten Tricks rein. Laß uns aufhören mit dieser Zeitvergeudung und dem Gerede über die Rettung der Kommission. Ich verspreche dir feierlich, Gerardo, daß dieser private Miranda-Prozeß dich oder die Kommission nicht behindern wird. Glaubst du wirklich, ich würde etwas tun, was die Kommission bedroht ..., dich daran hindert, die Leichen der Verschwundenen zu finden, die Umstände ihres Todes, wo sie begraben sind? Aber die Kommissionsmitglieder beschäftigen sich nur mit den Toten, mit denen, die nicht mehr sprechen können. Und ich kann sprechen ... — seit Jahren habe ich kein Wort mehr laut zu sagen gewagt, meinen Mund nicht einmal zu einem Flüstern geöffnet über das, was ich denke, ich habe Jahre lang alleine mit meinem Schrecken gelebt... aber ich bin nicht tot, ich dachte, ich wär's, aber ich bin es nicht, und ich kann sprechen, verdammt noch mal — laß mich um Gotteswillen sagen, was ich zu sagen habe, und du, du machst weiter mit deiner Kommission, und glaube mir, wenn ich dir sage, daß nichts hiervon an die Öffentlichkeit kommt.

Gerardo: Die einzige Möglichkeit, daß nichts an die Öffentlichkeit kommt, ist, wenn der Mann da drinnen sich freundlicherweise dafür entscheidet, seinen Fall nicht bekannt zu machen, nachdem du ihn laufen läßt. Und selbst dann — ich muß in jedem Fall zurücktreten, und je eher ich das tue, umso besser.

Paulina: Du mußt zurücktreten, auch wenn keiner hiervon etwas erfährt?

Gerardo: Ja.

(Kurze Stille) Paulina: Weil deine verrückte Frau jeden Moment wieder durchdrehen kann? Oder? Mußt du deshalb zurück...?

Gerardo:Unter anderem — ja, so ist es, falls dir noch was an der Wahrheit liegt.

Paulina: An der ganzen Wahrheit, hm? Kurze Stille Warte mal eben, ja? Sie geht in das Nebenzimmer und entdeckt, daß Jorge sich fast ganz von den Beinfesseln befreit hat. Als er sie sieht, hört er mit seinen Versuchen auf. Paulina fesselt ihn wieder und spricht mit einer männlichen Stimme „Hey, gefällt dir unsere Gastfreundschaft nicht? Möchtest schon wieder gehen, du kleine Fotze? Da draußen wirst du keine so angenehme Zeit verbringen wie mit mir hier drinnen, Süßer. Sag, daß du mich vermissen wirst. Wenigstens das kannst du mir sagen.“ Paulina streicht mit beiden Händen langsam über Jorges Körper, fast so, als wolle sie ihn streicheln. Dann geht sie in das Schlafzimmer zurück. Ich erkenne nicht nur die Stimme, Gerardo. Kurze Stille Ich kenne auch seine Haut wieder und den Geruch. Gerardo. Ich erkenne seine Haut wieder. Pause Hast du eigentlich einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß dein Herr Doktor schuldig ist? Nein, ernsthaft —, was wäre, wenn ich zweifelsfrei beweisen könnte, daß er schuldig ist wie der Teufel. Würdest du trotzdem wollen, daß ich ihn laufen lasse?

Gerardo: Ja. Wenn er schuldig ist: um so mehr Grund, ihn freizulassemn. Sieh mich nicht so an. Paulina, willst du denn, daß sie zurückkommen? Willst du, daß sie mit dem Rücken an der Wand stehen und sie provozieren, sie so verunsichern, daß sie zurückkommen, damit sie von uns nichts mehr zu befürchten haben, — wünschst du dir die Zeiten zurück, als diese Leute über unser Leben und Sterben zu entscheiden hatten? Wenn du das willst — dann wirst du es kriegen, glaube mir, du wirst es erreichen. Stell dir doch mal vor, jeder würde so handeln wie du. Ihr würdet eure persönliche Rache stillen, die Strafe selbst in die Hand nehmen, und alle anderen Menschen in diesem Land mit ihren tausenden von Problemen, die endlich etwas Frieden haben und die Chance, ihre Probleme anzugehen, diese Menschen können sich am Arsch lecken — der ganze Prozeß der Redemokratisierung kann sich am Arsch lecken...

Paulina: Gar keiner muß sich am Arsch lecken! Keiner wird jemals hiervon erfahren.