Die Schleusen sind ab sofort geöffnet

■ Die gewerkschaftlichen Appelle, Warteschleife und Kündigungsschutz über den 30. Juni hinaus zu verlängern, um den dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit im Osten abzufedern, haben nichts genutzt

Am 30. Juni ist „Großflugtag“ in den fünf neuen Ländern. An diesem Tag läuft die Warteschleife für rund 600.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes ebenso aus wie der tarifliche Kündigungsschutz für die mehr als eine Million Beschäftigten der Metallindustrie. Alle Appelle der Gewerkschaften, alle Warnungen vor der drohenden sozialen Katastrophe haben nichts genützt: Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ignorierte den Appell des GEW-Vorsitzenden Dieter Wunder, die Warteschleife zu verlängern. Und der Arbeitgeberverband Gesamtmetall stellte gegenüber der Industriegewerkschaft Metall unmißverständlich fest: „Eine Verlängerung des tariflichen Kündigungsschutzes darf es nicht geben.“ Verhandlungen kamen erst gar nicht zustande. Nur in einigen Betrieben konnte die Gewerkschaft entsprechende Regelungen durchsetzen.

Eine genaue Prognose über Ausmaß und Dauer der kommenden Kündigungswelle will man bei der Bundesanstalt für Arbeit nicht geben. Denn niemand weiß, „ob alle, die kündigen können, das auch tun werden“, meinte ein Sprecher der Arbeitslosenbehörde zur taz. Und so ist zu erwarten, daß Arbeitsamtchef Franke entgegen allen Prognosen Anfang Juli noch beruhigende Zahlen über den Anstieg der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland vorlegen kann. Schließlich wird der große Crash auf dem Arbeitsmarkt der neuen Bundesländer erst für die zweite Jahreshälfte 1991 erwartet. Aber die Schleusen dafür sind ab dem 1. Juli geöffnet.

Kein Vertrauen in Beschäf- tigungsgesellschaften

Rund 600.000 Beschäftigte waren mit 70 Prozent ihres Gehalts in den sechs- bzw. neunmonatigen Wartestand versetzt worden, um auf Wiederverwendung zu warten. Wer nach Ablauf dieser Frist nicht in den neu aufgebauten öffentlichen Dienst der Kommunen und Länder übernommen worden ist, wird ohne weitere Kündigungsformalitäten in die Arbeitslosigkeit geschickt. Betroffen sind alle Bereiche, für die es in dem neuen Deutschland keine Verwendung mehr gibt und die „abgewickelt“ werden: ein großer Teil der Streitkräfte und Polizei, viele Bereiche des Gesundheitswesens und der Universitäten, „überschüssiges“ Personal aus den aufgeblähten früheren Kommunal- und Bezirksverwaltungen und aus der zentralen Administration des DDR-Staates.

Wie viele Menschen nun aus der Warteschleife in die Warteschlange vor dem Arbeitsamt wechseln müssen, weiß man bei der Nürnberger Bundesanstalt nicht. Aber eines ist schon jetzt klar: Es werden Hunderttausende sein, und die wenigsten von ihnen werden aus den „ideologisch belasteten“ Bereichen kommen.

Auch im gewerblichen Bereich gibt es keine gesicherten Prognosen über die kommende Kündigungswelle. Allgemein wird damit gerechnet, daß rund die Hälfte der mehr als eine Million Beschäftigten in der Metallbranche nach Wegfall des Kündigungsschutzes über kurz oder lang arbeitslos wird. Zum großen Teil sind sie es schon jetzt: rund 640.000 leisten Kurzarbeit, davon mehr als ein Drittel weniger als 25 Prozent. Aber durch die Aufrechterhaltung ihres Arbeitsverhältnisses konnten sie im betrieblichen Zusammenhang bleiben und vor allen an den tariflichen Lohnsteigerungen teilhaben.

Damit aber ist es bald vorbei: Noch in diesem Jahr wollen sich die Betriebe von allem „Personalballast“ befreien. Die Planungen liegen in den meisten Betrieben bereits vor— nüchterne statistische Daten wie bei der Orstra-Hydraulik Leipzig: Hier sollen 4.044 Beschäftigte bis Jahresende „abgebaut“ werden. Bei Elektromat Dresden sind es 3.334, und die Sächsischen Baumwollspinnereien und Zwirnereien planen die Entlassung von 2.750 Beschäftigten. Diese Zahlen stammen aus einer Umfrage der Treuhand in Sachsen, wonach allein in diesem Bundesland im dritten Quartal 76.000, im vierten noch einmal 60.000 Stellen abgebaut werden sollen. Und zum Jahresende wird die Kündigungswelle keineswegs zu Ende sein. Denn zum 31. Dezember 1991 endet die bisher nur für Ostdeutschland geltende Kurzarbeiterregelung, die eine bis auf Null reduzierte Weiterbeschäftigung auch dann ermöglichte, wenn es sich nicht um einen vorübergehenden Produktionseinbruch des Betriebes handelte. Wenn im nächsten Jahr im „Beitrittsgebiet“ der strengere westdeutsche Standard gilt, werden sich die ostdeutschen Betriebe von einem großen Teil der jetzt knapp zwei Millionen Kurzarbeiter trennen müssen. Wie immer auch die Auseinandersetzung um die Beteiligung der Treuhand an den zu gründenden Beschäftigungsgesellschaften ausgehen mag: daß die Arbeitslosenwelle dadurch aufgefangen werden könnte, glaubt niemand so recht (auch der Besuch der FNL-Ministerpräsidenten bei Treuhandchefin Breuel konnte deren harte Haltung nicht aufweichen). Denn die Betriebe wehren sich dagegen, für die Arbeitnehmer in den Beschäftigungsgesellschaften irgendwelche Verbindlichkeiten einzugehen. Martin Kempe