Unsere Scheine im Bilderrahmen

■ Wie es war, als das Geld nicht mehr ins Portemonnaie paßte und drei Buchstaben aufhörten zu existieren

»Isses gut, isses nich gut?« haben sie sich gefragt, als das zweite Kind pünktlich zur Währungsunion auf die wirre Welt kam. Bis zum Umsturz in der DDR verlief ihr Leben glatt und unproblematisch, die Perspektiven bis zur Rente waren im wesentlichen überschaubar. Ein Jahr nach der Währungsunion offenbaren Gabi Remus, 27, Lehrerin und Hartmut Remus, 30, Feuerwehrmann, was sie von Wende, Westgeld und Weiterleben denken und was ihnen zu wünschen bleibt.

Hartmut Remus:

Ich bin kein Urberliner, sondern komme aus einer ländlichen Gegend, aus der Altmark. Ich bin DDR-mäßig aufgewachsen: Kindergarten, Schule, Lehre als Landmaschinenschlosser. Dann sofort zur Armee. Drei Jahre, weil ich danach zum Studium gehen wollte. Ich wollte weg vom Lande, Großstadt erleben. Dann kam die Chance, Wachregiment Felix Dzierzinski. Das ist ja jetzt ziemlich berüchtigt, aber damals war mir nicht klar, was das war. Ich dachte, da muß man Wache stehen und diese ewige Flamme beschützen. Als ich da hinging, war ich so, wie mich mein Elternhaus erzogen hatte : 90 Prozent vom Staat überzeugt. Bei politischen Witzen über Honecker wäre ich am liebsten aus der Tür rausgegangen. Ich komme aus einem Sperrgebiet, die von drüben kannte ich nicht. Auch das geteilte Berlin war eine Selbverständlichkeit.

Im letzten Jahr beim Regiment habe ich meine jetzige Frau kennengelernt und wollte in Berlin bleiben. Die Armee hat mir Ende 1983 eine Stelle bei der Feuerwehr vermittelt, die mußten sich ja kümmern, daß jeder hinterher Arbeit hat. Ab 1986 ging ich für drei Jahre zum Studium, da bekam ich erst mit, daß Feuerwehr hier eigentlich wie ein militärisches Organ behandelt wurde. Wir hatten Waffenausbildung und mußten unser Objekt mit der MP schützen, wir mußten marschieren, zum Unterricht, zum Essen, überall hin. Feuerwehr war hier wie eine Hilfspolizei, paramilitärisch. Obwohl viele meiner Kollegen damals schon anderer Meinung waren, fand ich das damals noch in Ordnung, ich dachte, das sei eben ein Sicherheitsorgan.

Von dieser Schule kam ich direkt in die Wende, im Spätsommer 1989, zur Feuerwache Berlin-Hohenschönhausen. Da sollte geübt werden, wie man ein Tankfahrzeug zum Wasserwerfer umrüstet, und Kollegen meinten, dann würden sie nicht mehr zur Arbeit kommen. Als ich die Ereignisse zum 7. Oktober verfolgte, war ich immer noch überzeugt, ich habe auch nicht glauben wollen, daß bei den Wahlen beschissen wurde. Ich habe einfach nicht gedacht, daß die so schlecht sind und den Menschen was vorlügen. 1953 und 1956 habe ich nicht miterlebt, und in meinem Elternhaus durfte ich kein Westfernsehen gucken.

Nach dem 7./8. Oktober, als ich das alles abends im Fernsehen sah, wollte ich es nicht glauben. In der Lagebesprechung hieß es noch, das sei ein normaler Ordnungseinsatz gewesen. Und am Abend sah ich die Bilder: Das waren ja Massen. Diese Volksbewegung. In dieser Zeit war ich nicht der lustigste Mensch. Ich zweifelte an mir und meiner Naivität und fragte mich, wie ich denn so blöd gewesen sein konnte. Bis Ende Januar 1990 habe ich mich damit herumgeschlagen, ob ich nun aus der Partei austreten solle. Das war hart. Marxismus- Leninismus vom Kindergarten bis zum Studium, bei der Armee und bei der Feuerwehr, das prägt.

Als es losging mit den Montagsdemos, da hieß es: Wir wollen einen besseren Sozialismus. Da war ich sehr dafür. Aber als es dann hieß: Wiedervereinigung, wurde ich skeptisch. Ich hatte absolute Vorurteile gegenüber der BRD. Dieses System war für meine Begriffe schlecht. Ich hatte wirklich Angst. Daß Deutschland wieder großkotzig werden würde, und der Welt sagen will, wo es lang geht.

Und dann war mir klar, daß beim Zusammenbruch der DDR die Leute wieder auf die Straße gehen und fordern würden: Wir wollen genausoviel haben wie die. Ich habe mich auch geschämt für diese ganzen DDR-Bürger, die plötzlich ihre West-Verwandschaft ausbuddelten, um sich beschenken zu lassen.

Als ich das vom kommenden Westgeld hörte, war ich skeptisch, denn damit hörte doch die DDR auf, zu existieren. Damals schon, und nicht erst mit der Einheit. Bei meinen Brandschutzkontrollen in den Betrieben habe ich gesehen, wie die wirklich aussahen, einer sofortigen Weltkonkurrenz konnten die nie standhalten.

Einen Konsumschock hatte ich nie. Ich wußte auch vorher, daß es im Westen alles gibt. Nur meinte ich immer, der Preis dafür ist eben die Unterdrückung. Als ich das dann mit eigenen Augen sah, war ich ganz gelöst, und so ist es eigentlich heute auch noch.

Unsere Bedürfnisse waren sowieso nie hochgeschraubt. Ich habe hier früher nicht schlecht gelebt, zwar nicht als Großverdiener, aber es hat immer gereicht. Wahnsinnige Spareinlagen hatten wir nicht. Den Trabi haben wir jetzt erst von meinen Schwiegereltern geschenkt bekommen. Die ganzen bürokratischen Probleme allerdings, die wir heute haben, hatten wir damals nicht.

Mein Ideal für die Zukunft ist noch immer ein menschlicher Sozialismus. Einfach, weil ich denke, daß die Menschheit in dieser Ellbogengesellschft zugrunde geht, menschlich, moralisch und ökologisch. Heute verstehe ich besser, wie dieses kompromißlose stalinistische Kommando-System hier aufgebaut war. Im nachhinein wundere ich mich, daß das solange gehalten hat. Ich muß sagen, ich sehne mich eigentlich nicht mehr zurück. Es geht mir heute in dem Sinne besser, daß ich mich nicht mehr aus irgendeinem falschen Parteiverständnis selbst diszipliniere und denen da oben glauben will. Meine Meinung ist jetzt frei.

Gabi Remus:

Ich war ein Mensch, der sich um Politik am liebsten überhaupt keine Gedanken gemacht hat. Ich hab' eigentlich erst mit meinem Mann gelernt, bei einem politischen Thema mal zuzuhören oder mir Gedanken zu machen. Vorher brauchte ich das nicht, und wenn es vielleicht im Staatsbürgerkunde-Unterricht von mir verlangt wurde, habe ich mich dazu gezwungen. Das waren meist Sachen, die man auswendig lernen konnte. Damit bin ich gut gelaufen. Ich war rundrum zufrieden und ein lustiger und fröhlicher Mensch und nie verbissen.

Ansonsten verlief mein Weg glatt: Kindergarten, zehnte Klasse und anschließend ein vierjähriges Fachschulstudium am Lehrerbildungsinstitut. 1985 kam ich an eine Schule in Marzahn und habe da als Unterstufenlehrerin angefangen. Nach einem halben Jahr kam schon unsere erste Tochter. Das war zum zehnten SED- Parteitag und da kam gerade die Regelung heraus, daß man ein Jahr zu Hause bleiben konnte. Seit 1987, nach dem Babyjahr, arbeite ich an einer Schule in Baumschulenweg.

1989 hatte ich gerade eine erste Klasse, und mit der habe ich die Wende erlebt. Zum 7. Oktober hatte ich eine Wandzeitung gemacht, wie es Mode war: mit unserem Erich Honecker. Dann waren die Herbstferien, und erst da bekam ich mit, was los war. Ich hatte zu Hause kein ruhiges Gewissen mehr, wegen der Wandzeitung. Am ersten Schultag, eine Woche später, kam ich eine halbe Stunde früher, um die abzureißen. Das erste, was meine Kinder fragten, war, ob es denn stimme, daß der »Erich Honecker geschwindelt habe« oder daß der »böse« sei. Weil ich gar nicht in der Lage war, mit den Kindern darüber zu reden, habe ich gesagt, sie sollen das mit den Eltern besprechen.

Unsere Schule war direkt am Grenzübergang Sonnenalle. Am Abend des 9. November hatten wir eine Lehrerfeier und plötzlich füllte sich die Straße mit Menschen, und zig Autos hupten. Meine Kollegen gingen rüber, aber ich merkte, daß ich einfach nicht konnte, warum, weiß ich nicht. Am Sonnabend danach kamen die Kinder nicht zur Schule, sondern hatten alle »Bauchschmerzen« oder »Zahnschmerzen«. Da habe ich meinen Mann angerufen und gefragt, was er meinte, soll ich mal rübergehen, und er hat nur gesagt: Ich brauch' 90er Kassetten. Ich hatte keine Vorstellungen davon, was mich erwartete, und als ich wiederkam, stand ich unter einem völligen Konsumschock. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen.

Ich vergesse auch nicht, wie meine Tochter reagierte. Die war damals dreieinhalb. Für sie stand die Farbe im Vordergrund. Nachdem wir das erste Mal im Westen waren, fragte sie ständig, wann wir wieder da hingingen, wo es so schön bunt war. Sie hat das sofort als nicht so eintönig wie hier empfunden.

Und mit der Wende wurde ich wieder schwanger. Wir guckten uns beide in einer ruhigen Stunde an und überlegten: Isses gut, isses nich gut. Wir wußten ja nicht, was kommt. Aber dann habe ich mich mit dem Gedanken getröstet: Kinder sind immer geboren worden und auch immer groß geworden. Auf jeden Fall haben wir alle Vergünstigungen noch bekommen. Ich war zum Beispiel erstaunt, daß es das Geld für die Geburt nach der Währungsunion 1:1 gab. Und das ganze Babyjahr noch mit 75 Prozent Gehalt. Jetzt sieht das ja ganz anders aus.

Ich habe mich eigentlich auf die Währungsunion gefreut. Ich wollte mir einfach was Schönes kaufen. Das erste Gehalt auf den Kopf kloppen. Paar tolle Sachen zu ganz anderen Preisen, als man sie gewöhnt war. Außerdem war ich hochschwanger und mußte mich bei keiner Sparkasse anstellen, das ging alles fix. In der Nacht zum 1. Juli war ich unheimlich aufgeregt. Und dann habe ich diese großen Scheine in Empfang genommen, die paßten gar nicht in mein Portemonnaie. An diesem Sonntag früh machten wir einen Spaziergang durch unsere Einkaufsstraße und sahen, wie sich plötzlich die Schaufenster füllten und lockten.

Am Montag bin ich in unsere Kaufhalle gestürmt und habe mir ganz genau die neuen Preise angesehen, was mich nun täglich erwartete. Ich habe so darüber gestaunt, daß ich etwa für Äpfel nun das Doppelte zahlen sollte wie für Apfelsinen, oder daß das Brot so unwahrscheinlich teuer war. Und anderes unwahrscheinlich billig. Das zu lernen, daß man nun vergleichen sollte, und von Geschäft zu Geschäft laufen, das war sehr neu. Das hat lange gedauert.

Als wir am letzten Wochenende bei unseren West-Bekannten zum Grillen eingeladen waren, haben wir überlegt, was nehmen wir mit. Da ist uns dieser Laden in Baumschulenweg eingefallen, wo es noch so viele DDR- Produkte gibt. Da haben wir eine große Tüte gepackt, Speisemöhren in dieser Blechbüchse mit der ollen Banderole zum Beispiel, klebriges Öl und dieses schöne harte Toilettenpapier.

Bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, das ist jetzt viel einfacher. Man hat sich Wünsche erfüllt, wofür man früher jahrelang hätte sparen müssen. Bestimmt muß man erstmal abwarten, wie es mit der Miete und der Energie und diesen Sachen wird. Unser Gehalt verändert sich aber auch ab Juli, angeblich die sechzig Prozent. Den Überblick über Einnahmen und Ausgaben haben wir jetzt noch nicht.

Was ich überhaupt nicht begreifen kann, ist die Diskussion, ob unsere Abschlüsse als Unterstufenlehrer anerkannt werden oder nicht. Es ist ja nicht mein Versäumnis, daß ich kein Hochschulstudium gemacht habe. Ich war nicht zu faul, sondern ich wollte mit jüngeren Kindern zu tun haben, und dafür gab es hier nur diese Ausbildung und keine andere.

Wir haben auch Bekannte, bei denen hängen noch unsere Geldscheine in einem Bilderrahmen an der Wand. Die haben sich zwar jetzt abgefunden, aber die Erinnerung ist da. Die Vereinigung habe ich erst nicht so für voll genommen, und dann habe ich gedacht, naja, die werden das schon irgendwie machen.

Der dritte Oktober ging mir aber wirklich an die Nieren, dieser Moment, wo man die drei Buchstaben DDR überall streichen konnte. Dieses Gefühl. In der DDR bin ich geboren und aufgewachsen, und da lebte ich nun mal. Und dann ist da bis heute diese große Problem: Wir arbeiten weiterhin mit den gleichen Lehrbüchern, weil kein Geld da ist. Im Atlas oder in jeder zweiten Aufgabe begegnet uns die DDR. Bei den Einsetzübungen in der »Muttersprache« steht in jedem zweiten Satz: In unserer sozialistischen Heimat ... . Wir müssen doch sowieso nur noch schauspielern.

Ich habe in den letzten Monaten viel in West-Schulen hospitiert. Da gingen überhaupt immer nur unsere Kollegen hin, aber es hat sich kaum mal einer von dort für unsere Arbeit hier interessiert. Die werden wohl alle gedacht haben, daß die Kinder hier ständig geradesitzen müssen und aufstehen, wenn der Lehrer kommt. Aber das war ja auch so, da wurden bei uns leicht militärische Formen angeregt.

Das einzige, wovor ich wirklich Angst habe, ist Gewalt. Mir geht da immer durch den kopf, oh mein Gott, wie wird das mal mit den Kindern. Da habe ich neulich hier am Bahnhof eine Truppe von Siebzehnjährigen gesehen, wie sie einen Kebab-Wagen mit Knallern beschossen. Da waren bildhübsche, chic angezogene Mädchen dabei, und ich dachte an meine Töchter, daß man da als Eltern später vielleicht gar keinen Einfluß mehr nehmen kann.

Trotzdem wünsche ich mir für meine Kinder nicht mehr, daß alles so geblieben wäre. Die Sicherheit, das beruhigende Gefühl, daß alles für dich erledigt wurde, das war ja schön und gut. Aber ich glaube schon, daß diese Gesellschaft jetzt günstiger ist, um sich zu entfalten und sein Geschick zu entwickeln. Damit muß man sich jetzt halt abfinden: Entweder du tust was dafür, oder es klappt eben nicht.

Ich bin enttäuscht von vielen Leuten, die ich kenne, die ihre Arbeitslosigkeit so gleichgültig hinnehmen, und sagen, ach, das Arbeitslosengeld reicht mir auch noch. Ich hab so was in letzter Zeit oft gehört. Ich bin der Meinung, arbeiten zu gehen, ein Kollektiv um dich rum zu haben, das gehört einfach dazu. Wir wissen nicht, ob unsere Kindergärten bestehen bleiben, oder ob wir sie nach einer Privatisierung vielleicht noch bezahlen können. Das wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte, aus einem solchen Grunde zu Hause bleiben zu müssen, die Wohnung zu putzen, Essen zu kochen und auf die Kinder aufzupassen. Das kann es also wirklich nicht sein. Ich bin als Frau nicht dümmer oder unfähiger oder sonstwas. Dann würde ich wirklich sagen: Scheiße, wär's doch, wie's früher war. Protokollantin:

Catarina Kennedy-Bannier