Die Nacht, als Radio F.R.E.I. aufflog

Von Henning Pawel

Einen freien Sender gibt's in Erfurt schon seit 1990. Das Radio F.R.E.I. Auf einmal war es da und sendete. Freilich ohne Lizenz. Aber es hat berühmte legale Geschwister in fast allen westeuropäischen Ländern. Gescheite, witzige Sendungen. Ein Bürgerradio, was immer das auch sein mag, hat sich auf den Weg gemacht, die Menschen zu erreichen. Ihnen Informationen, Denkanstöße, Kommunikationen zu vermitteln. Kürzlich nun eine brisante Diskussion um die Tage Jüdischer Kultur in Erfurt.

Fachmännische Vorbereitung vom Moderator der Sendung. Sein Pseudonym Vandenberg. Er hatte am Morgen des Ereignisses sein Abitur beendet und war wunderbar drauf. Auf dem Sommer, der vor ihm lag, aber auch auf seinem freien Sender, der im alternativen Jugendzentrum in der Schottenstraße installiert ist.

Vorbei an Scharen wild blickender und noch viel wilder singender Autonomer, die ebenfalls im Hause ihrer Heimstatt haben, über Berge von Schutt, führte der Moderator seine moderaten Gäste ins Studio. Dr. Fischer, Chefdramaturg der Städtischen Bühnen, Hans Donath, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU im Erfurter Stadtparlament, Frau Schotte vom Komitee Thüringen-Israel, die Musikwissenschaftlerin Heike Schubert sowie der Autor dieser Kolummne erreichten unbeschadet den Senderaum und begannen allda energisch und engagiert zu disputieren.

Pawel und Donath stritten gerade im Sender ebenso leiden- wie freundschaftlich über die Enzyklika Mit brennender Sorge Pius XII. Da trat ein Ereignis ein, das die jungen Funkfreaks in ebenso brennende Sorgen wie weiland den umstrittenen Papst versetzte. Die Tür flog nämlich auf, mit ihr auch gleich der ganze Sender.

Eine gewaltige Schar Ordnungshüter, begleitet von Vertretern der Telekom, stürmten herein und erklärten das Radio, seine Betreiber, sowie alle Anwesenden für illegal. Und was nun kam, machte mich wieder einmal und eigentlich trotz des Ärgers über die unterbrochene Sendung froh.

Es ist wirklich eine neue Zeit gekommen. Wie wäre denn eine solche Aktion noch vor zwei Jahren beendet worden? Handschellen das Mindeste. Mit Sicherheit Haftstrafen. Zerstörte Lebensentwürfe junger Leute. Das Abitur ungültig. An jenem Abend nun zwar mächtig Power. Stimmmgewaltig und gesetzeskundig die Ordnungshüter. Im vollen Bewußtsein ihrer Sendung die Leute vom Sender. Die Gäste kopfkratzend, weil ratlos. Aber auch irgendwie Verlegenheit auf allen Seiten. Auch dem Telekom-Vertreter schien es ziemlich suspekt zu sein, ein paar junge Leute vorzuführen, die auf einer Welle liegen, welche nur in Erfurt zu hören ist und die niemand sonst in Anspruch nimmt.

Aber halt — die Pflicht. Der galt es, Genüge zu tun. Faszinierend alles, was dann noch kam. Der martialisch angekündigte Haussuchungsbefehl fand sich plötzlich nicht. Errötend teilte der Einsatzleiter mit, das Dokument sei im Amt vergessen worden. Es würde aber unverzüglich beigetrieben. Die Illegalen mögen doch bitte einen Augenblick Geduld haben.

Halleluja, jauchzten in mir die Posaunen. Ordnungshüter, die endlich einmal etwas vergessen. Während nach dem Durchsuchungsbefehl geschickt wurde, seilten die Redakteure ab. Ihr Sendegerät durchs Fenster. Einer der Grünberockten eilte unverzüglich hinzu, um den Frevel zu unterbinden. Dr. Fischer, der dem Verhinderer in den Weg geriet, bekam einen gewaltigen Stoß und verlor die Gewalt über seinen Körper wie die Anwesenden nun über ihre Nerven.

Das verbale Feuer war eröffnet. Die Argumente flogen hin und her. Immer mehr Autonome rückten vor. Die Ordnungshüter und Telekom- Leute gingen langsam zurück. Zumal sich der Durchsuchungsbefehl noch immer nicht einfand. Ich verspürte plötzlich eine fast unerträgliche Schwere in mir. Zuerst argwöhnte ich, mein Gemüt habe durch die Ereignisse Schaden genommen. Dann aber bemerkte ich in meiner Jackettasche zwei der kostbaren Mikrofone. Man hatte sie mir zur Rettung hineingeschoben. Auch die bei Dr. Fischer plötzlich einsetzende Schwermut entpuppte sich als Mischpult, und Schubert, die Wissenschaftlerin, beförderte, der Himmel allein weiß wie und wo und natürlich, wie wir alle, ohne es zu wissen, einen Recorder hinaus aus dem Radio F.R.E.I. ins Freie.

Nur Donath, der CDU-Politiker, wurde mit Transportaufträgen verschont. Man wollte ihn fairerweise wohl nicht noch mehr inkommodieren. Ich glaube aber, als wahrer Christ hätte auch er nach dem Grundsatz gehandelt: „Einer trage des anderen Last.“ Selbst wenn diese nun zufälligerweise eine Sendeanlage ist.

Fazit der ganzen Angelegenheit; Die Zeiten sind anders geworden. Sogar, oh Wunder, die Ordnungshüter haben sich geändert. Es wird einander nicht mehr auf Hauen und Stechen begegnet. Augenmaß war angesagt. Auch bei den Polizisten. Die, ich bin ganz sicher, sehr viel andere Sorgen haben. Man sollte den Beamten künftig derartiges ersparen. Sie haben es schwer genug, hier in Thüringen und anderswo. Klarzukommen mit der Vergangenheit und der Zukunft. Und Telekom, die Großmächtige, die zwar keine Vergangenheit, aber eine ungeheure Zukunft hat? Sollte die Gewaltige so klein sein, ein paar junge Menschen nicht tolerieren zu können, die auf einen winzigen Punkt im Äther, auf eine Mikrowelle also, Anspruch erheben?