„Wir sind das vergessene Volk“

Die Ärzte gegen den Atomkrieg diskutierten über die Folgen der Atombombentests auf ihrem Weltkongreß  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Sie werden „downwinders“ genannt, die Opfer der Atombombentests. Die, die dort leben, wohnen, Kinder bekommen und sterben, wo die Atomwaffenländer seit den fünfziger Jahren ihre atomaren Tests durchgeführt haben und durchführen. Zu ihnen, die dort leben, wo die radioaktiven Winde die Verstrahlung hingetragen haben und hintragen, gehört Claudia Peterson. Sie wohnt mit ihrer Familie in der kleinen Stadt St. George, nicht weit vom Atomwaffentestgelände der USA in der Nevada-Wüste.

„Wir sind das vergessene und betrogene Volk“, stellt sie sich auf dem 10. Weltkongreß der Organisation Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) am Wochenende in Stockholm vor. Bis 1970 fanden die Atombombentests in der Wüste Nevada überirdisch statt. Seither sind ihr Vater, ihre Schwester und ihre sechsjährige Tochter an Krebs gestorben: „Es ist gerade eine Woche her, da saß ich am Krankenbett meines Nachbarn und mußte zusehen, wie er an Leukämie starb.“ Claudia Peterson hat ihr Leben lang im strahlenden Wind der Atombombentests gelebt. „Unsere Regierung hat mich und mein Land betrogen. Ich bin verbittert, verletzt, wütend und will jetzt etwas gegen diesen Wahnsinn machen.“

Die US-Regierung, die Peterson nie aufklärte, in welcher Gefahr sie lebt, hat sie kürzlich um Entschuldigung für das Leid ihrer Familie gebeten. „Die Entschuldigung können sie sich sonstwohin stecken. Die Tests gehen weiter.“ Unterirdisch. Nach Meinung der ÄrztInnen gegen den Atomkrieg auf längere Sicht genauso gefährlich wie die früheren überirdischen Versuche.

In der Sowjetunion wurden an 50 unterschiedlichen Plätzen mindestens 800 Atomtests durchgeführt. Die Folgen kommen erst langsam zum Vorschein. Aus Polynesien sind nur pessimistische Nachrichten zu hören. Dazu Patrick Howell aus Tahiti: „Die langjährigen Tests der Franzosen haben das Land richtig abhängig gemacht von diesen Versuchen. Es gibt einen Wirtschaftszweig, der nur davon lebt.“ Die Anti- Atombomben-Bewegung versucht nun eine Volksabstimmung über die Fortsetzung der Atombombentests in Polynesien durchzusetzen. Während die etwa 1.400 Delegierten aus 72 Ländern noch darüber diskutierten, ob IPPNW sich über den Kampf gegen Atomwaffen hinaus als Organisation zum Kampf gegen alle Massenvernichtungswaffen und Kriege verstehen soll, hatte das dichte Kongreßprogramm dieses schon vorweggenommen: psychologische, ethische und ökologische Dimensionen der Aufrüstung, neue Kommunikationstechniken im Dienst der Gesundheit und Sicherheit, Strategien der Friedensarbeit. Aber natürlich auch der Golfkrieg und seine Folgen.

Eine Delegation unter Leitung des US-Amerikaners Robert Moodie, die die irakische Hauptstadt besucht hatte, konnte in Stockholm zumindest an Einzelbeispielen zeigen, wie berechtigt das von Bernhard Lown, einem IPPNW-Gründer, gezeichnete Gesicht des modernen Krieges aussieht: „Jetzt bomben, später sterben.“ Der Jordanier Aboullah Toukan, wissenschaftlicher Berater von König Hussein, beklagte die Folgenlosigkeit, mit der bisher Umweltzerstörung als Kriegswaffe eingesetzt werden kann. Die UN-Konvention aus dem Jahre 1977 sei deshalb inzwischen völlig unzureichend. Toukan: „Wir brauchen etwas, das konkret ist, wie die Regel gegen die Anwendung biologischer und chemischer Waffen.“

Harte Kritik richtete Toukan an die Adresse der Vereinten Nationen, die im Vorfeld des Golfkriegs alle Warnungen Jordaniens vor den katastrophalen Umweltfolgen in den Wind geschlagen hätte und gegenwärtig nichts mehr unternehme, die völlig unzureichenden Sanierungsarbeiten in Kuwait zu unterstützen. Jordanien werde deshalb im Herbst — zu Beginn der Session der UN-Generalversammlung — eine Initiative einbringen, um den jetzigen Rechtszustand, daß niemand für die ökologischen Schäden eines Krieges verantwortlich gemacht werden könne, zu beenden.

Eine andere politische Initiative hatte Sten Andersson, schwedischer Außenminister, bei der feierlichen Eröffnung des am Sonntag zu Ende gegangenen Kongresses angekündigt: Schweden wird Ende Juli der Abrüstungskonferenz in Genf einen Vertragsentwurf für einen vollständigen Stopp aller Atomtests vorlegen.