Müllers Mauser

Lehrstück über die Revolution in Greifswald  ■ Von Hartmut Krug

Zum Lehrstück hat sich Heiner Müller in wechselnden Zeitläuften unterschiedlich geäußert: Er hat es für tot erklärt, und er hat selbst drei Lehrstücke geschrieben. Philoktet (1966) handelt von der Lüge als schlechtem Mittel zum guten Zweck; Der Horatier thematisiert 1968, wie ein schuldig gewordener Held zu behandeln sei. Mauser, 1970 veröffentlicht und nie in der DDR aufgeführt, stellt die radikalste Frage: „Wozu das Töten und wozu das Sterben, wenn der Preis der Revolution die Revolution ist, die zu Befreienden der Preis der Freiheit.“

Greifswald, unauffälliges Mehrspartentheater im fernen Norden der neuen Republik, hat seinem eher dem Musiktheater zugeneigten und nur noch spärlich erscheinenden Publikum ein doppeltes Experiment zugemutet: Die Zuschauer werden mit ihrer eigenen DDR-Geschichte konfrontiert — und sie müssen sich in eine ungewohnte, polyphone theatralische Spielweise hineinsehen.

Müller hat ein aus immer wiederkehrenden Motiven und Satzblöcken hart gefügtes Rollengedicht geschrieben, das Brechts Die Maßnahme von 1930 zur Folie nimmt. Für Brecht gab es die Frage überhaupt nicht, ob die Mittel der Revolution deren Gehalt vernichten könnten: gerade das ist die zentrale Frage in Mauser.

„Wissend, das Gras noch müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt“, so geht ein Revolutionär in Witebsk an seine „Arbeit“. Er tötet im Auftrag der Revolution, auch seinen Amtsvorgänger. Eine in die Tötungspflicht genommene Maschine, das sein Aussteigen nicht erlaubt. Bis die Pflicht zur bewußtlosen Lust wird, und er damit zum „Feind der Revolution“. Seine eigene Tötung soll der Revolutionär bejahen, was er nicht tut, aber er stellt sich an die Wand vor das Exekutionskommando.

Der Berliner Regisseur Thomas Roth, der etliche Schauspieler seines freien Orph-Theaters mit an das Greifswalder Theater bringen konnte, schafft als Rezeptionsmöglichkeit für das Publikum eine reale Figurenwelt, er schließt Müllers abstrakten Lehr-Text auf in die konkrete Erfahrungswelt des vergangenen DDR-Alltags. Eine zweieinviertelstündige, pausenlose Selbstbefragung der Schauspieler und des Publikums.

Eine Simultanbühne bietet verschiedene Assoziationsebenen: Da liegt ein totes Bahngleis, über das ein „ewiger Krieger“ die Vorkriegs- und Kriegsvergangenheit in die vorgestellte DDR-Gegenwart, die selber wieder als vergangen erscheint, einbringt. Eine Baumgruppe ist Spielort für das Ferienlager einer Schul- und FDJ-Gruppe, zwei geborstene Säulen schaffen an der Bühnenseite ein symbolisches Refugium für Aussteiger. Ein Diktator mit Stalinmaske kämpft an seinem Schreibtisch mit der handgreiflich umgesetzten Macht der Phrasen gegen seinen Stellvertreter. 16 Personen erzählen ihre Geschichten als asynchronen Kommentar zu Müllers Frage-Text; die Geschichten durchdringen sich, alle Personen sind während der gesamten Aufführung auf der Bühne, kommentieren mit ihren Varianten individueller Erfahrungsmuster die Grundfrage: mitmachen, aussteigen, verdrängen, widerstehen?

Müllers Text wird gesprochen, gekontert von DDR-Alltagsgeschichten. Der Veteran kehrt aus dem Kriege zurück, wird erst dekoriert und dann rüde beiseite geschoben. In der Schule erzählt er den Kindern, denen die Lehrerin Müllers Text mechanisch diktiert, vom Töten. Ein Schüler übergibt sich, ein Mädchen zieht hilfesuchend mit roter Fahne vergeblich zu Väterchen Stalin. Immer wieder werden die Rituale der Vergangenheit den Figuren als Korsettstangen eingezogen: Sie singen die alten Lieder, sie marschieren, proben den Aufbruch und rennen doch auf der Stelle. Die Lehrerin begeht Selbstmord auf einer Tempeltreppe: morsches Symbol für den Aufstiegsglauben der DDR sowie Hinweis auf den der DDR und dem Stück immanenten Opfermythos.

Neben den drei Gruppen der Herrschenden, der Betroffenen/Ausführenden/Aussteigenden und der Sprachlosen (Krüppel, Zigeunerin) gibt es noch drei Engel, von Pantomiminnen gespielt. Sie erwecken die Figuren zum Leben, gehen deren Weg mit, drücken deren Empfindungen körperlich noch einmal aus. Ihre Formensprache wirkt kunstgewerblich, einziges Manko einer klar strukturierten, assoziationsreichen Aufführung, die zum Schluß in der Greifswalder Gegenwart ankommt.

Die Konflikte der Figuren werden nicht gelöst, der Schluß bleibt offen. Ein Unwetter tobt, Hilfsgüter fallen vom Himmel, jeder greift sich etwas und geht still ab. Die deutsche Vereinigung hat als Vereinzelung stattgefunden. Nur einer verschwindet im Untergrund, seine laute Frage nach dem Sinn der Opfer für die Revolution hallt lange nach über die leere offene Bühne.

Eine aufregende Aufführung, bei der die Darsteller während des Probenprozesses eigene Erfahrungen einbrachten. Ein Wagnis des Intendanten (bei 430 Plätzen sind in einer normalen Vorstellung kaum 100 besetzt), denn das studentische Publikum kommt noch zu wenig und das „normale“ scheut diese harte Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Ein Theaterereignis, das einmalig bleiben wird: Regisseur Thomas Roth und seine Schauspieler vom Orph-Theater wollen in Ostberlin weiter freies Theater spielen.