In Kreuzberg wächst die Kriminalität

■ Immer mehr kleine Läden und Sozialprojekte werden überfallen/ AnwohnerInnen beklagen die zunehmende Verrohung/ Die soziale Kontrolle im Kiez funktioniert nicht mehr/ Auf Diskussionsabend wurde Kampagne »Leute guckt her« vorgeschlagen

Kreuzberg. Auf der Bank vor dem U-Bahnhof Kottbusser Tor liegt eine Frau. Sie schreit: »Hilft mir denn keiner?« Die Menschen hasten vorbei, niemand bleibt stehen. Am nächsten Tag ist die Frau tot. Ein 13jähriger Schüler wird auf offener Straße von Jugendlichen zusammengeschlagen. Sie wollen seine Schuhe haben. Einige Passanten bleiben stehen und gucken zu. Keiner kommt auf die Idee, dem bedrängten Jungen zu helfen.

Vorfälle wie diese wurden am Montag abend von Mitarbeitern Kreuzberger Sozialprojekte und kleinen Gewerbetreibenden im Treffpunkt »Familiengarten« in der Oranienstraße zuhauf berichtet. Dabei war man hier eigentlich aus einem anderen Grund zusammengekommen: Seit einem guten halben Jahr haben die Einbrüche in Kreuzberger Sozialprojekten und kleinen Läden drastisch zugenommen. Allein das Frauen-Stadtteilzentrum Schokofabrik wurde innerhalb der letzten zwei Monate neunmal von Dieben heimgesucht. Beim letzten Mal, am 13. Juni, brachen sie die gutgesicherte Eingangstür samt Verankerung aus der Mauer, zerstörten einige Fensterscheiben und ließen drinnen Kassen, Bargeld und eine Telefonanlage mitgehen. Der geschätzte Gesamtschaden: rund 22.000 Mark.

In einem Klamottenladen in der Oranienstraße gingen die Langfinger nach Rififi-Art vor. In der Nacht von einem Samstag auf einen Sonntag hieben sie vom Hausflur aus in die Wand zum Laden ein großes Loch, durch das sie zwölf Lederjacken und sechs Anoraks entwendeten. Die Hausbewohner gaben auf Nachfrage an, nichts gehört zu haben.

Die Kriminalität in Berlin steigt, geklaut wird überall, aber warum müssen in letzter Zeit ausgerechnet so viele kleine Läden und linke Sozialprojekte in Kreuzberg dran glauben? Über diese Frage wurde am Montag abend genauso spekuliert wie über die möglichen Täter. Vermutet wurde, daß die Diebe darauf setzen, daß die betroffenen Besitzer oder Projekte wegen ihrer eigenen Abneigung gegen die Polizei nicht so schnell Anzeige erstatten und die Objekte weniger gut gesichert sind als die Supermärkte von Penny und Kaiser's. Bei den Tätern wurde davon ausgegangen, daß es sich um Beschaffungskriminalität von Drogenabhängigen sowie um Kreuzberger Jugendliche handelt.

Weitaus besorgniserregender als die Berichte von den Diebstählen waren an diesem Abend die Schilderungen über die zunehmende Verrohung im Kiez. Da war die Rede von einem neunjährigen Jungen, der von Gleichaltrigen unter Androhung von Gewalt erpreßt wurde, aus der Geschäftskasse seiner Mutter nach und nach 4.000 Mark zu klauen. Seit einem halben Jahr werden immer mehr Leute durch Kampfhunde bedroht. In der Forsterstraße wird sogar ein ganzes Haus von jungen Männern tyrannisiert, die in einer Wohnung Kampfhunde züchten. Hilflose Menschen und Drogenabhängige werden einfach auf der Straße liegen gelassen.

Bei der Frage, was man gegen die »zunehmende Verslumung« und Aggression im Kiez tun könne, machte sich allgemeine Hilflosigkeit breit. Die Forderung einiger Teilnehmer, die Polizei müsse verstärkt in die Verantwortung genommen werden, stieß bei anderen auf Widerspruch. Konsens war, daß die soziale Kontrolle im Kiez nicht mehr funktioniert und sich jeder an die eigene Nase fassen muß: »Wenn wir nichts machen, hauen die Leute stillschweigend ab«, stellte ein Vertreter der BI SO 36 fest. In Anlehnung an die Kampagne gegen Heroin im Kiez vor einigen Jahren wurde eine Kampagne »Leute guckt her« vorgeschlagen, die die Sensibilität, die Zivilcourage und den Widerstand in Kreuzberg — wohlbemerkt nicht im Sinne von Selbstjustiz — stärken soll.

ALs erster Schritt soll Anfang September ein öffentliches Forum stattfinden, auf dem die Sozialprojekte und kleinen Gewerbetreibenden gemeinsam mit den Anwohnern »laut« über den Zustand Kreuzbergs »nachdenken« wollen. Vorgeschlagen wurde, dazu auch Politiker des Bezirksamts und Vertreter der Polizei einzuladen. plu