Eine Seefahrt, die ist lustig...

■ »Gestrandet auf hoher See« — Maritim-heilpädagogischer Dokumentarfilm in der Filmbühne am Steinplatz

Ich weiß, die Zahlen sprechen gegen mich: 80 Prozent der Jugendlichen, die eine solche Fahrt mitgemacht haben, fanden eine Arbeit oder einen Ausbildungsplatz und sind nicht mehr straffällig geworden, Jugendliche, ohne eine solche Fahrt, kommen lediglich auf 30 Prozent.

Eine solche Fahrt, das meint, einen etwas zu lang geratenen Segeltörn durch das Mittelmeer und den Atlantik auf der Brigantine »Outlaw«. Passend zum Namen des Schiffes befinden sich an Bord: Jugendliche aus Gefängnissen, Heimen und psychiatrischen Einrichtungen.

Gestrandet auf hoher See von Fritz Poppenberg ist nun leider kein Abenteuerfilm über eine Bande Jugendlicher, die auszog, um auf einem Schiff das Weite zu suchen, sondern eine 115 Minuten andauernde Dokumentation über das heilpädagogische Modell-Jugendschiff Corsar. Bei Wind und Wetter, im Kampf mit den Naturgewalten soll den Jugendlichen beigebracht werden, Verantwortung zu übernehmen und soziales Verhalten zu entwickeln. Solch eine Studienfahrt dauerte jeweils ein halbes Jahr, Begleitpersonen sind Pädagogen, Psychologen und echte Seemänner. Im Fall Gestrandet auf hoher See auch ein Filmteam, das sich, um nicht aus der Reihe zu tanzen, voll in den Schiffsalltag — einschließlich der Wachdienste — integrierte. Volle Fahrt voraus.

In der Eröffnungssequenz hält sich die Kamera noch fern vom Ort des Geschehens, die Outlaw schaukelt ins Bild. Die Kamera gibt sich sogleich als Aufnahmegerät zu erkennen: Sie läßt sich die entgegenkommende Gischt gefallen, das Wasser tropft an ihrer Linse ab und man begreift, die Kamera will sich nicht verstecken.

Einmal an Bord gekommen, wird sie die Rolle einer unbeteiligt Beteiligten auch nicht mehr aufgeben. Ihr erstes »Gespräch« führt sie mit einem Jungen, der zusammengekauert im hintersten Winkel des Schiffes hockt, seine Cola-Dose wie die letzte Rettung umklammernd, klagt er über Heimweh und Übelkeit. Auch die nächsten Bilder sind alles andere als romantisch: Der Versuch eines Jungen, die Planken zu streichen, scheitert an dem ihm immer wieder entgegenkommenden Segel, genervt verzieht er das Gesicht. Der wachhabende Steuermann hängt an seinem Ruder wie Jesus am Kreuz, er findet einfach alles Scheiße. Nicht nur der Seegang, auch der Ton untereinander ist rauh, und es hört sich schon absurd an, wenn den Jugendlichen auf der Outlaw vorgeworfen wird, sie seien verwöhnte Bengels. Mit moralischem Druck wird nicht gespart: »Wenn wir alle zusammen anpacken, dann wird auch alles wie am Schnürchen laufen.« »Wenn du jetzt nicht arbeitest, müssen die anderen deine Arbeit machen.« Stimmt zwar, doch vermißt man die Möglichkeit der Diskussion über die Gründe der Arbeitsverweigerung, statt dessen halten die Jugendlichen zusammen mit ihren Betreuern lieber ein Strafgericht ab.

Auch zwei Monate gemeinsame Fahrt haben kein Vertrauensverhältnis zwischen den Jugendlichen und ihren Erziehern entstehen lassen. Kur vor einem Landausflug kommen die Pädagogen nochmals zusammen: »Wir müssen ihnen klarmachen, daß das bisher eine liberale Angelegenheit war.« »Wenn sie uns jetzt verarschen, müssen wir härter werden.« »Die sind viel gewiefter als wir.« Weitere Expertenrunden erweisen sich als rein narzistische Nabelschau. Eine Erzieherin erzählt mit leuchtenden Augen von ihrem tollen Erlebnis, als sie einen Jugendlichen beim Selbstgespräch belauschte. Man freut sich, daß ein Junge erklärte, er sei jetzt kein Punk mehr. Zur Supervision bei diversen Landausflügen trifft dann auch Obererzieher und Leiter des Projekts Martin Fink ein. Nach erfolgter Berichterstattung durch die Betreuer gibt dieser zu verstehen, daß er die Entwicklung der Jugendlichen aus der Entfernung am besten nachvollziehen kann und eine große Bewegung feststellt.

Nach einer Stunde Film wünscht man sich nichts sehnlicher als eine Meuterei der Jugendlichen herbei. Auch könnte die Kamera endlich von ihrer unbeteiligten Position herunterkommen. Ein einziges Mal mischt der Kameramann sich ein: Ein Junge wird bei einer Wachverweigerung damit erpreßt, nach Beendigung der Fahrt nicht auf einen Wunsch-Jugendhof zu kommen. Man hört den Mann hinter der Kamera ganz leise fragen, ob dies nicht eine Drohung sei. Der Erzieher blickt in die Kamera und gibt ein klares »Nein« von sich. Selbstgefällig fährt er fort: »Egal, was die Jungens anstellen, die Betreuer sind sich einig: Etwas zu essen würden sie immer bekommen.« Anke Leweke

Gestrandet auf hoher See läuft ab heute jeweils um 18.30 in der Filmbühne am Steinplatz.