An der Zeitenwende

Rosetta Loys Erzählungen über Italien 1939  ■ Von Ulrich Hausmann

Unaufwendig, fast banal sind die Geschichten der italienischen Autorin Rosetta Loy aus dem Erzählband „Im Ungewissen der Nacht“. Mit Leichtigkeit und einfachen Mitteln fängt sie die Stimmung einer Epoche ein — die des gedankenlos in den Tag hineinlebenden Bürgertums im faschistischen Italien unmittelbar vor Ausbruch des 2. Weltkriegs. Anders als viele ihrer italienischen Kollegen hat sie es gar nicht nötig, formale literarische Feuerwerke zu veranstalten, denn sie hat wirklich etwas zu erzählen.

„1939“ heißt der erste Text. Es ist der einzige, in dem die Autorin von sich in der ersten Person spricht; und er gibt in mehrerlei Hinsicht das Thema vor. Der 1. September 1939 ist gemeint, der Tag, an dem die Deutschen Polen überfielen und an dem der Zweite Weltkrieg begann. Jenen Tag hat das damals achtjährige Mädchen nie vergessen. In der Rückschau wird er zu dem Tag, der die Zeit — und die Dinge — in ein Vorher und ein Nachher teilt.

Rosetta Loy läßt sich tragen von diesem Bild des Dazwischen. „Die Zeit bricht uns entzwei: Zwar sind wir in Wirklichkeit höhere Wesen, aber sie überlistet uns, bewegt sich gewandt wie eine Blindschleiche oder eine Maus, steht scheinbar still und gleitet doch fort. Diese neun Erzählungen sind der bescheidene Versuch, ihre Beweglichkeit zu umgehen. Sie aufzuspießen, sie anzuhalten in der Sekunde vor der großen Nacht. Doch kann man Schmetterlinge erhaschen und auf Karton aufspießen, während sie noch lebendig fliegen?“

Es ist das alte und dennoch immer wieder neue Problem, das sich bereits das klassische griechische Denken stellte, das des stehenden Pfeils. Oder, von der Bildhauerei her gedacht, für die unter allen bildenden Künsten diese Frage die drängendste ist: Wie läßt sich die Bewegung im Stillstand darstellen?

In neun Erzählungen variiert Rosetta Loy das Thema, ohne je schematisch zu sein. Zwar lassen sich einige Grundstrukturen ihrer Erzählungen benennen: Immer ist der bevorzugte Blickwinkel der einer zumeist jungen Frau, immer dreht sich die Handlung um die Beziehung zum anderen Geschlecht, und immer durchzieht die Geschichten ein merkwürdig schwebender Stand der Dinge, ausgelöst durch das Wissen des Lesers um die Bedeutung dieses Spätsommers 1939. Aber alle Geschichten sind anders, Konstellationen und Gestalten wiederholen sich nie.

Im Mittelpunkt von „Walter Palmaran“ steht die unerfüllte Liebe einer jungen verheirateten Frau zu einem, wie man beiläufig erfährt, gegen die Nazis eingestellten Musikkritiker. In ihrem Feriendomizil in den Südtiroler Alpen muß sie mitansehen, wie Walter Palmaran sie gar nicht wahrnimmt, sondern seine ganze Aufmerksamkeit Luisa schenkt. Wie ein Todesengel streift Palmaran die kleinen Geschicke jenes Tals. Am Ende ist Luisa an einer Hirnhautentzündung gestorben, Palmaran nach Wien gegangen; er hatte für Hitler optiert, war in Österreich einberufen worde, und überhaupt ist der Zauber des Jahres 1936, in dem er das erste Mal aufgetaucht war, geschwunden.

Immer wieder streut Rosetta Loy in ihre Geschichten Zeichen jener Vorahnung von Tod, die über dem schicksalhaften Jahr liegt. Da stirbt in der Geschichte „Bilbao“, ein Hund. Niemand fand je heraus, wie und warum es geschah. Das kleine Mädchen in der Geschichte „Olga“, das als „go-between“ der unerfüllten Liebe zwischen der eleganten Witwe Olga aus der Stadt und einem Bauernjungen aus den Bergen fungiert, wird nachher durch einen unglücklichen Sturz ums Leben kommen.

„Die Amme“ wiederum ist eine einzige Parabel auf das bevorstehende Massensterben. Die Amme, ihr kleines Kind und der Signore des Haushalts, in dem die Amme eingestellt wurde, sie alle werden sterben. Wie beiläufig fügt Rosetta Loy über den Tod des Signore diesen Satz ein: Er hinkt, „eine ganz leichte Behinderung, die ihn dennoch nicht retten wird, mitten auf der Straße wird er sterben, erschlagen wie ein Hund, dieses kürzere Bein ist ein Unglück, wenn man schnell davon laufen muß“. Warum und vor wem er weglaufen muß, bleibt im Dunkeln. Man mag ahnen, daß es irgendwie mit dem Unheil des Nazismus und des Krieges zusammenhängt.

Die Geschichten ziehen den Leser in ihren Bann und lassen ihn die Ungewißheit jener Tage spüren. Was ist ein Vorzeichen und was nicht? Die Erzählung „Die Villa Maria Theresias“ beginnt im Nachher, am 31. Dezember 1939. Es ist eine unglückliche Liebe zwischen einem armen Nachhilfelehrer und eine Tochter aus reichem Hause. Das Ende beschreibt Rosetta Loy so: „Sie hat ihn schweigend gewähren lassen: Bald wird ja sowieso alles vorbei sein. Der Tee, der Regen, das Jahr 1939“. Was vorher, im „letzten Sommer“, nicht geschah, das geht nun so in Erfüllung — und ist doch sogleich zuende.

In den Erzählungen dieses Bandes tauchen, wie Sternschnuppen, die man kaum erkennt, Figuren auf, die — aus dem Wissen von heute — das Ausmaß der Verbrechen erahnen lassen: das antifaschistische Paar in Paris, der Musiklehrer Wolfgang und seine Frau aus Polen, Aiglon und seine Mutter aus dem Baltikum, von denen man meint, sie seien keine Juden, und die dann doch halsüberkopf aus ihrer Sommerfrische am Mittelmeer im Jahre 1939 verschwunden sind. Oder auch die Brüder Faden aus der Geschichte „Der Sommer mit den Engländern“. „Aus Osteuropa kommen merkwürdige Gestalten mit Haaren, die bis auf den Kragen reichen, in zerknitterten altmodischen Anzügen aus grobem Stoff. Sie kommen aus Städten wie Katowice, Cernopol und fragen bei den Hotelportiers nach, ob es Arbeit für sie gibt. Auch bei Ann und Jeremy sind zwei sonderbare Brüder aufgetaucht, die Faden...“.

Aber Rosetta Loy variiert nicht nur das Thema vom „stehenden Pfeil“, sie rekonstruiert zugleich ein Mosaik sozialer, kulturell-politischer Empfindungen und Wahrnehmungen, nämlich die des weitgehend entpolitisierten, aber doch nicht vollkommen auf den rohen Chauvinismus Mussolinis eingeschworenen italienischen Bürgertums angesichts der sich abzeichnenden Katastrophe Italiens und Europas. Sie schreibt: „In diesem Herbst voller Verletzungen hat (Europa) begonnen, sich zu spalten, und wie bei einer Frucht, die auf den Boden fällt und aufplatzt, zerfressen es die Ameisen schon von innen...“

Nie mehr wird dieses Maß an gesellschaftlicher Unaufmerksamkeit in Italien (und in Europa) erlaubt sein. Rosetta Loys Buch vermittelt eine Ahnung davon; und sie erinnern an ein Mitteleuropa, daß es so nie wieder wird geben können.

Rosetta Loy: Im Ungewissen der Nacht. Erzählungen, Übertragung aus dem Italienischen von Maja Pflug, Arche Verlag Zürich, 236 S., 32 DM