Keine Zuflucht vor der Gewalt der Erwachsenen

Eine Studie über die Situation der vietnamesischen Kinder in den Hongkonger Lagern spricht von „katastrophalen Folgen der Haft“  ■ Aus Hongkong Stephen Vines

Sie sind keine Häftlinge und sind doch nicht frei. Das Verbrechen der vietnamesischen Kinder in den geschlossenen Lagern für Boatpeople in Hongkong besteht darin, illegal in die britische Kolonie gekommen zu sein, als Teil des fortbestehenden Exodus aus Vietnam. Über 12.000 VietnamesInnen sind allein in diesem Jahr gekommen. Seit langem war bekannt, daß die Kinder in den Lagern besonders bedroht sind. Nun sind einige der schlimmsten Befürchtungen über die Auswirkungen der Haft bestätigt worden. Der kürzlich veröffentlichte Bericht der Hongkonger Gruppe ,Refugee Concern‘ macht die „katastrophalen psychologischen, emotionalen und physischen Folgen der Haft“ auf die Kinder und ihre Familien deutlich.

Fast 40 Prozent der InsassInnen der geschlossenen Lager, etwa 23.000, sind Kinder. Sie erhalten nur geringfügig bessere Behandlung als die Erwachsenen, was hauptsächlich der Arbeit von freiwilligen Hilfsorganisationen zu verdanken ist, die Unterricht und ab und zu Ausflüge aus den Lagern anbieten. „Sie leben umgeben von Stacheldraht und sind der Gewalt als Teil ihres Alltags ausgesetzt“, erklärt der Sprecher der Gruppe ,Refugee Concern‘, David Liu. Er glaubt, daß die Haft für Kinder „zu schweren psychologischen und physischen Störungen führt“. Die 200 Seiten umfassende Studie, die sich auf Interviews mit Boat People, FlüchtlingsfunktionärInnen und MitarbeiterInnen der Hilfsorganisationen gründet, zeigt, was es bedeutet, Kind in einer der geschlossenen Lagern zu sein. In solchen, von Polizei oder Gefängnisverwaltung geführten Camps, befinden sich mehr als 90 Prozent der Boat People, diejenigen, die nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Die übrigen sind in offenen Flüchtlingslagern untergebracht, wo die Bedingungen gut sein sollen.

Alle interviewten VietnamesInnen hatten unmittelbare Erfahrung mit Gewalt in den Lagern, die zumeist von Mitinsassen ausgegangen war. Ein 17jähriger erklärte, bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung „bin ich gerannt, aber es gibt nirgendwo einen Platz zum Verstecken. Wenn die Leute anfangen, zu kämpfen, habe ich Angst; Ich will, daß jemand kommt und dem ein Ende setzt, aber wer? Wenn ich nur nicht eingeschlossen wäre, könnte ich mich sicher fühlen.“ Andere sprechen von gewaltsamen Übergriffen, die von den Behörden ausgegangen sind und von der Furcht vor kollektiver Bestrafung.

Trinh Do, ein 35jähriger Vietnamese, der in der Zwischenzeit die Anerkennung als Flüchtling erhalten hat, beschreibt, wie seine Ehe in der geschlossenen Haft an den Rand des Zusammenbruchs geriet. Seine Frau wollte sich umbringen, seine Kinder wurden apathisch. Nachdem seine Familie in ein offenes Lager transferiert worden war, sagt er, habe sie sich innerhalb von drei Monaten wieder zusammenfinden können.

Die bedrängende Enge und die äußerst beschränkte Bewegungsfreiheit bringt die meisten der Eingeschlossenen an den Rand ihrer Fassung. Kinder werden gegeneinander aggressiv, Eltern reagieren gewalttätig gegenüber ihren undisziplinierten Kindern, Groll und Ablehnung baut sich auf allen Seiten auf. Über allem liegt die drückende Befürchtung, nach Vietnam zurückgeschickt zu werden, falls sie es nicht schaffen, als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Für die Kinder in den Lagern ist die Angst Teil ihres Lebens, viele verlieren darüber hinaus auch ihre eigene Orientierung. Einige benutzen sogar nicht mehr ihren eigenen Namen, sie rufen sich und ihre Freunde mit den Nummern, unter denen sie im Lager registriert sind. Die Organisation der Lager bietet wenig Raum für eigene Initiative, und so verlieren sie die Fähigkeit, eine eigene Wahl zu treffen. Auch die Eltern haben nicht die Macht, für sie zu entscheiden, das spüren sie schnell und es läßt sie den Respekt von den Eltern verlieren.

Sie leben auf engstem Raum, auf dreistöckigen Bettenplattformen, in Hallen, die bis zu 300 Personen beherbergen. Auf diesen Betten essen, schlafen und spielen sie. So werden die Kinder von früh an mit der Sexualität der Erwachsenen und weiteren Erfahrungen konfrontiert.

,Refugee Concern‘ fordert eine radikale Veränderung der Behandlung der Boat People, eine Öffnung der Lager und schnelle Maßnahmen, um den Kindern mehr Freiheit zu geben. Die Hongkonger Regierung hat diese Vorschläge zurückgewiesen und verkündet, diese „würden nichts dazu beitragen, das Problem hier zu lösen, sondern würden sie im Gegenteil noch verstärken“. Die einzige wirkliche Lösung bestehe darin, daß die nicht als Flüchtlinge anerkannten Boat People sich freiwillig zur Repatriierung melden. „Die wirkliche Unmenschlichkeit liegt in der falschen Hoffnung, die man ihnen macht, daß es für sie eine Zukunft anderswo als zu Hause in Vietnam gibt.“ Zumindest gestattet die Hongkonger Regierung allen VietnamesInnen, an Land zu gehen. Andere Länder der Region stoßen die Boote zurück aufs Meer, wo Mord und Vergewaltigung durch die Piraten an der Tagesordnung sind. Doch nachdem die Hongkonger Behörden die Boatpeople an Land gehen lassen, müssen sie nun einen humaneren Weg finden, mit ihnen umzugehen.