Der unselige Drang nach dem Mandat

■ An seinen Landtagssitz war Gies nur mit Hilfe eines fälschungserfahrenen DDR-Wahlleiters gekommen

„Er ist wie Boris Becker, er muß um jeden Satz kämpfen.“ So sah das Magdeburger Kabarett „Die Kugelblitze“ den sachsen-anhaltinischen Landesvater Gerd Gies. Auch nach Ansicht des Vorsitzenden der Fraktion Bündnis 90/Grüne im Landtag, Hans-Jochen Tschiche, war der zurückgetretene Ministerpräsident „einfach in seinem Amt überfordert“. Tschiche sieht in dem Rücktritt nur ein „Bauernopfer“, auch wenn er froh ist, „daß wir diesen klassischen Typ von Blockwendehals jetzt los sind“. Mit 21:20 Stimmen hatte die CDU-Fraktion in Sachen-Anhalts Landtag am Dienstag dem langjährigen Funktionär der Block-CDU das Vertrauen verweigert. Doch dieser Aufstand in der CDU kam „relativ spät“, und ohne grünes Licht aus Bonn für den Sturz des Ministerpräsidenten wäre wohl auch weiterhin nichts geschehen.

Nach außen farblos, brav und immer der nun von Helmut Kohl vorgegebenen Parteilinie treu ergeben — diese Eigenschaften hatte Gies, der einst den Entwurf des SED-Parteiprogramms als „Maxime für das Engagement christlicher Bürger“ lobte, aus seiner Blockflötenzeit mitgebracht. Doch innerparteilich war er machtbewußt, und er konnte auch tricksen. So als ihn ausgerechnet das gute Abschneiden der CDU im Oktober bei den ersten Landtagswahlen, ins Abseits zu drängen drohte. Die sachsen-anhaltinischen Christdemokraten hatten damals 48 von 49 Wahlkreisen des Landes direkt gewonnen. Weil ihnen aber nach ihrem Zweitstimmenergebnis nur 40 Sitze zustanden, ging Landesvorsitzender Gies leer aus, weil er zwar auf Platz 1 der Landesliste stand, aber in keinen Wahlkreis kandidiert hatte. Da es natürlich noch keine Landesverfassung gab und somit strittig war, ob der künftige Ministerpräsident aus den Reihen den Abgeordneten kommen muß, stellte nun ausgerechnet der Wahlsieg die politische Zukunft von Gerd Gies in Frage.

In dieser Not leitete der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion im Verein mit Gies schließlich jene parteiinterne Überprüfung der CDU- Landtagsabgeordneten auf eine etwaige Stasi-Vergangenheit ein, die nunmehr, über ein halbes Jahr später, den Anlaß für den CDU-Aufstand für den Ministerpräsidenten geliefert hat. Während das Ergebnis der offiziellen Überprüfung der Abgeordneten durch die Gauck-Behörde noch bis heute aussteht, hatte Gies schon damals eine Liste mit insgesamt elf Stasi-Karteinummern von CDU-Landtagsabgeordneten in der Hand, bei denen zwar nicht klar war, ob es sich um Nummern von Tätern oder Opfern handelte, auf deren Grundlage aber nun Angeordnete zum Rapport zitiert und zum Rücktritt gedrängt wurden. Erst nach insgesamt drei Rücktritten, als auch der Gies ergebene und ihm zuarbeitende Innenminister Wolgang Braun seinen Landtagssitz sicher hatte, wurde das Verfahren gestoppt.

Das noch von der DDR-Volkskammer beschlossene Wahlgesetz sah für die acht Überhangmandate, die die CDU in Sachsen-Anhalt erringen konnte, keine Ausgleichsmandate vor. Die Opposition vertrat daher in der konstituierenden Sitzung den Standpunkt, daß erst dann, wenn neun CDU-Landtagsabgeordnete zurückgetreten seien, ein Nachrücken über die CDU-Landesliste möglich sei. In diesem Falle hätten insgesamt elf CDU-Abgeordnete zurücktreten müssen, um ein Nachrücken über die Liste von Gies bis hin zum drittplazierten Braun zu ermöglichen. Während die Opposition noch protestierte, wurde das Mandat von Gies per Erklärung des Landeswahlleiters bestätigt. Für Landeswahlleiter Horst Dreyer, der schon bei den gefälschten DDR-Kommunalwahlen in Magdeburg die Aufsicht geführt hatte, war dies die letzte Amtshandlung.

Folgt man Gies selbst, so hat die Vorgeschichte seines Landtagsmandates bei dem turbulenten Aufstand in der CDU-Landtagsfraktion am Ende kaum noch eine Rolle gespielt. Entscheidend war wohl tatsächlich der Wink mit dem Zaunpfahl aus Bonn, die Aufforderung von Helmut Kohl an den Ministerpräsidenten, endlich zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Nach den Eierwürfen von Halle hatten es sich Gies und Braun einfach mit ihrem Vorsitzenden verdorben. Jürgen Voges