Objekt unbarmherziger Schaulust

■ »Der Elephantenmensch« von Bernard Pomerance im Magazin-Theater

Den Anblick verunstalteter Menschlichkeit als Akt der Selbstvergewisserung(Foto: Buhs/Remmler)

Was steckt eigentlich hinter der unbarmherzigen Schaulust, die Menschen dazu treibt, die selstamen körperlichen Ausartungen ihrer eigenen Spezies mit grausamer Belustigung oder auch mit mitleidigem Entsetzen anzustarren?

Sei es auf den Jahrmärkten der Jahrhundertwende oder heutzutage im Schrottrummel der Fernsehkanäle: die freaks boten mit ihren Verkrüppelungen und Entstellungen immer schon Anlaß zum vergnüglichen Gruseln oder zum traurigen Mitleiden, sei es als Mutprobe, das Elend des Menschen(un)möglichen zu schauen, es es als Mit-Leiden an der Ohnmacht menschlicher Schicksalsergebenheit. So oder so: Ein Akt der Selbstvergewisserung derer, die sich normal nennen und beim Anblick der verunstalteten Menschenhaftigkeit tiefe Dankbarkeit empfinden, wie groß die Misere ihres eigenen Lebens auch sein mag. Denn im Kaufpreis des Elendsblicks ist eines immer auch enthalten: die Freiheit des Vergessens, sich nach dem Staunen und Grausen einfach abzuwenden.

Als David Lynch sich der historischen Geschichte des Elephantenmenschen Joseph Merrick annahm, der es schaftte, in der victorianischen Gesellschaft salonfähig zu werden, ging es auch um ein soziales Vergessen: Der High Society war die Lebensrente für das Monster Merrick nicht zu wenig, um in der spektakulären Fürsorge für den Außenseiter par excellence die soziale Verelendung der Arbeitermassen im Zuge der aufkommenden Industrialisation zu verdrängen. In eindringlichen Schwarz-Weiß-Bildern setzt Lynch den tödlichen Rhythmus der Maschinenwelt mit der urwüchsigen Aggression der Elephantenherde gleich, die die Mutter Merricks so erschreckte, daß sie eine Mißbildung zur Welt brachte.

Auch die Theatergruppe im Magazin setzt ganz auf die Kritik an der victorianischen Gesellschaft, deren steifer Verhaltenskodex allemal gut genut ist, um mit historischer Genauigkeit die Zivilsationskrankheiten unserer Welt ganz allgemein bloßzustellen: Außer den paar extremen Randfiguren stehen nur Angehörige einer perfekt durchreglementierten Oberschichte auf der Bühne, deren Steifheit selbst noch das Gefühlsleben bestimmt.

Der mehr schlecht als recht bezahlte und durch wissenschaftliches Interesse oder Mitleidsgeste verbrämte Blick auf die Monströsität des fremden Körpers kaschiert nur notdürftig die eigenen ins Gewissen und ins Gefühl abgedrängten Deformationen. Das Strickmuster der Inszenierung von Ulrich Simontowitz auf den Begriff bringen: Hinter jedem gemaßregelten Gang, hinter jeder disziplinierten Geste und hinter jedem mit Bart und Koteletten zugeklebten Gesticht verstecken sich die von persönlichem Eigennutz und gesellschaftlicher Anpassung geprägten Auswüchse der »Normalen«, während demgegenüber aus der körperlichen Verwachsenheit des gesellschaftlich sanktionierten Ausstellungsstücks des Elephantenmenschen liebenswerte Naivität und gradliniger Idealismus aufblühen.

Anders als im Film trägt er hier keine Maske, und das ist gut so. Mit atemberaubender Gesichtsakrobatik mimt Victor Schefé allein mit den ehrlichen Mitteln seiner körperlichen Ausdruckskunst. So bewahrt er die Darbietung vor unangemessenem Krüppelrealismus und damit vor falschem Kitsch und angestrengter Mitleidsforderung. Vor uns entsteht das Bild einer zur Einsamkeit verdammten Kreatur, die denkt und liest, redet und schaut und für die doch alles Normale außergewöhlich ist — sei es der Händedruck oder der Anblick einer nackten Frau.

Wenn dann aus seinem gräßlich schmatzenden, die Konsonaten mühsam zermahlenden Mund der Satz zu hören ist, der ihm die Gleichstellung von Menschlichkeit mit Zivilisation einhämmern soll: »Wenn ich mich an die Regeln halte, werde ich glücklich sein!«, wird die tragische Unanpassbarkeit diesen Außenseiters schlagartig deutlich.

Wäre das Stück ein Monolog, wie wir ihn von Kafkas Affen Rotpeter kennen, der von seiner Integration in der Menschenwelt erzählt, dann hätte die Metapher vom freak vielleicht seine volle Wirkung entfalten können. Leider aber ist die Vorlage des Amerikaners Bernard Pomerance eine wortreiche Episodenfolge, die eine Fülle von Nebenfiguren aufbietet, um die Biographie Merrick gebührend abzuspulen. Fünf Darsteller spielen zahlreiche weiter Rollen, die zumeist marginal bleiben und nicht einmal als handfeste Typen gelingen. Allein die Darstellung der Schauspielerin Mrs. Kendall mit ihrer seltsamen Freundschaft zu dem Außenseiter gelingt eindringlicher, weil sie sich über mehrere Szenen entwickeln darf.

Besonders krass fällt die Blässe des Entdecker und wissenschaftlichen Verwerters des freaks Dr. Frederick Treves ins Gewicht. Nirgends gelingt es dem jungen Darsteller Stephan Meyer-Kohlhoff, die Rolle glaubhaft zu machen, indem er das Monströse im Verhalten des ganz normalen Arzt-Karrieristen so deutlich werden ließe, daß sie tatsächlich zum gesellschaftlich angepassten Antipoden würde.

So bleibt es Merrick in einer Traumsequenz überlassen, die ganz normale Deformation des Arztes aus seiner besonderen Sicht heraus vorzustellen: die erschreckende Normalität seines Kopfes, der träumen darf, ihne daß die Träume anderer seinen Kopf beschweren oder gar das Genick ihm brechen; mit einem durch Zufriedenheit und Unfähigkeit zur Selbstkritik entstellten Mündchen; einem starken Arm, dessen brutale Art die Behauptung eigener Macht nicht von christlicher Nächstenliebe unterscheiden kann; einen schwachen linken Arm, der das aufsässige Genital in Schach hält, kurz, die Physiognomie eines ganz durchschnittlichen Menschen, bei dem Egoismus und Zivilisationsforderung, Ratio und Gefühl im Streit liegen.

Der vielleicht schönste Satz Merricks: »Mein Kopf ist so groß, weil er voller Träume ist!« läßt den Sinn seiner theatralen Existenz sinnfällig werden; doch die Chance, darum herum eine bewegende Inszenierung zu bauen, wurde von der Regie moderat vertan. baal

außer Mi um 20.30 im Magazin-Theater