Neue Thesen wider das Versäumnis der Wissenschaft

■ Burkhard Jellonek liest aus seinem Buch »Homosexuelle unterm Hakenkreuz«

»Deutsche Historiker haben es versäumt, das Elend der Schwulen im Dritten Reich zu diskutieren«, warf der in die USA emigrierte Jude Richard Plant der Wissenschaft zurecht vor, als er im Februar sein Buch »Rosa Winkel« im Prinz Eisenherz-Buchladen vorstellte. Ein gutes Vierteljahr später soll Burkhard Jellonek nun diesem Versäumnis Abhilfe leisten. Seine Dissertationsschrift »Homosexuelle unterm Hakenkreuz« (Verlag Schöningh, Paderborn 1990, 68 DM) stellt der Münsteraner Geschichtsforscher heute abend im schwulen Buchladen vor.

In seiner Studie wiederholte Jellonek Altbekanntes von Hirschfeld bis Röhm, dachte aber auch Neues und Unbequemes dazu. Aus der Analyse der realen NS-Politik heraus wagt er die provokante These, im Dritten Reich habe es keinen »Schwulen-Holocaust« und keine »Endlösung der Homofrage« gegeben: Trotz tausender gleichgeschlechtlicher KZ-Opfer sei dem homosexuellen Individuum die »Chance« der »Umerziehung« geblieben.

Da die Akten der »Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung« verschwunden sind, griff Jellonek auf Gestapo-Unterlagen dreier deutscher Ortschaften zurück, um seine These zu untermauern. Dabei gelang es ihm, einen Einblick in die konkrete Verfolgungspraxis der Nazis zu gewinnen:

Agierte die Gestapo in der dörflichen Pfalz beispielweise »lediglich reaktiv« und blieb auf Anzeigen aus der Bevölkerung angewiesen, konnte sie im kleinstädtischen Würzburg Homosexuelle fast nur nach Geständnissen anderer im Schneeballsystem ermitteln. Mit Razzien ging die Gestapo dagegen in der Großstadt Düsseldorf vor, in der es eine ausgeprägte schwule Subkultur gab. Der Aktenlage nach wurden jedoch Personen, denen keine »homosexuelle Tat« nachgewiesen werden konnte, meist wieder freigelassen. Für die anderen winkten Gefängnisstrafen, deren Höhe sich nach der Anzahl der aufgedeckten Sexpartner richtete. Ins KZ wurden »nur« 7-10% der Ermittelten gebracht.

Hinter dieser Politik erkannte Jellonek »trotz ihres Ausmerzevokabulars« die Hoffnung der Nazis, deutsche Schwule mit Hilfe der Medizin (aber auch der Psychoanalyse) »in für die Volksgemeinschaft nutzbringende Arier zu verwandeln«. Ernsthaft wurde dafür die Zwangskastration für alle §175-Täter vorbereitet, jedoch in den Kriegswirren nicht mehr umgesetzt. Die »freiwillige« Entmannung blieb aber für verurteilte Schwule oftmals die letzte Möglichkeit, dem Gefängnis oder KZ zu entgehen.

Ohne den Terror der Nazis gegen Schwule zu verharmlosen, zieht Jellonek daraus den Schluß, daß das Schicksal von Juden, Sinti oder Roma im Dritten Reich nicht mit dem Homosexueller vergleichbar ist. Recht hat er insofern, daß Nazi-Politik nicht per se das Todesurteil für alle erkannten Homosexuellen bedeutete. Um jedoch die praktizierte Homosexualität zu vernichten, war dem NS-Staat jedes Mittel recht.

Die von Jellonek postulierten Gegensätze von »Endlösung« und »Umerziehung« sind damit von vornherein falsch bestimmt; denn jede »Endlösung der Homofrage« muß schließlich ein Widerspruch in sich bleiben: Lesben oder Schwule, die begehren einander immer wieder neu — egal, ob es die Machthaber wollen oder nicht. Micha Schulze

heute um 20 Uhr im Prinz Eisenherz- Buchladen, Bleibtreustr. 52, 1/12