„Wir stehen nach wie vor mit leeren Händen da“

Siemens zeigt den ehemaligen ZwangsarbeiterInnen die kalte Schulter/ Am letzten Dienstag entschied das Münchener Oberlandesgericht, daß die Klage von Waltraud Blass abgewiesen wird/ Die Regierungsfraktionen verhinderten 1988 eine politische Lösung der Entschädigungsfrage  ■ Aus München Karin Mayer

Die Urteilsverkündung dauerte nur Sekunden: Die Klage der ehemaligen Zwangsarbeiterin Waltraud Blass gegen Siemens wird abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Am letzten Dienstag vor dem Oberlandesgericht München scheiterte Waltraud Blass erneut damit, von dem Konzern 24.000 Mark Lohn- und Rentennachzahlung zu erstreiten. Eine bescheidene Summe für den Elektroriesen, so möchte man meinen. Und eine bescheidene Summe für die Demütigung und die Angst, die Waltraus Blass als Zwangsarbeiterin erlitten hat. „Eine Blamage für die deutsche Justiz“ sei das Urteil, sagt Susanne Willems, Sprecherin der Info- und Beratungsstelle der Opfer des NSRegimes.

In der Gerichtsverhandlung gegen den Elektro- und Rüstungskonzern ging es um mehr als um 24.000 Mark: Tausende ehemaliger ZwangsarbeiterInnen hofften auf die Anerkennung von Waldtraud Blass' Ansprüchen, die einer Anerkennung ihrer Ansprüche gleichgekommen wäre. „Ich stehe ja nicht nur für mich, ich stehe für viele andere“, sagt die 71 jährige Klägerin.

Der Prozeß Blass gegen Siemens wurde als Musterprozeß geführt und wurde von Aktion Sühnezeichen und der SPD unterstützt. Bis heute ist Zwangsarbeit nicht als NS-Unrecht anerkannt. Obwohl sich ehemalige ZwangsarbeiterInnen seit den fünfziger Jahren um Wiedergutmachungszahlungen bemühen, wurden nur wenige entschädigt; die meisten gingen leer aus. Auch das Münchener Gericht argumentierte am Dienstag wieder mit dem Bundesentschädigungsgesetz von 1953 und dem Londoner Schuldenabkommen. Demnach werden ausländische ZwangsarbeiterInnen gar nicht, deutsche nur für den Freiheitsentzug entschädigt. Politisch Verfolgte, Homosexuelle, Sinti und Roma, Deserteure und Zwangssterilisierte haben demnach keinen Anspruch auf Entschädigungen.

Waltraud Blass wurden nach dem Krieg fünf Mark pro Tag im KZ ausbezahlt; Siemens aber zahlte keinen Pfennig. Von der erneuten Absage durch den Spruch des Oberlandesgerichts fühlt sie sich gedemütigt. „Wir sind immer noch die Kleinen, auf denen man rumtrampeln kann.“

Acht Millionen ZwangsarbeiteInnen

Von Dezember 1943 bis August 1944 war Waltraud Blass unter den Drahtwicklerinnen des Rüstungsbetriebs Siemens & Halske — ein Werk, das in unmittelbarer Nähe des Konzentrationslagers Ravensbrück während des Kriegs aus dem Boden gestampft wurde — der billigen Arbeitskraft wegen. Für Waltraud Blass und rund 2.500 Frauen bedeutete das, zwölf Stunden lang im Akkord Draht um Spulen zu wickeln, die für Feldtelefone, Bombenabwurfgeräte oder U-Boote gebraucht wurden. Wer das vorgeschriebene Pensum nicht erreichte, mußte Strafestehen. Einziger Arbeitslohn war und blieb eine Scheibe Brot mit etwas Wurst.

Rund acht Millionen ZwangsarbeiterInnen hielten 1944 die Rüstungsindustrie des NS-Regimes aufrecht. Die meisten davon Fremdarbeiter und Kriegsgefangene, mindestens eine halbe Million KZ- Häftlinge wie Waltraud Blass, vermutlich weitaus mehr. Im KZ Ravensbrück überlebten die Menschen durchschnittlich nicht länger als neun Monate: Vernichtung durch Arbeit.

Die Klage von Waltraud Blass, so das Argument der Siemens-Verteidiger, komme zu spät. Es habe sie ja keiner daran gehindert, vor Ablauf der Verjährungsfrist vor Gericht zu gehen. Aber schon in den sechziger Jahren galten Entschädigungsansprüche vor deutschen Gerichten als verjährt. „Eine ganz billige Ausrede“, meint Waltraud Blass. Denn die „Lagergemeinschaft Ravensbrück“ habe früher „schon mal die Fühler ausgestreckt“. Aber überall wurde abgeraten: In den Gerichten saßen dieselben Richter, die Menschen ins Konzentrationslager geschickt hatten. „Die Siemens-Leute sind doch eiskalt“, sagt Waltraud Blass über ihre Begegnungen im Gerichtssaal. „Da spricht mich keiner mal persönlich an, die würdigen einen doch keines Blicks.“

Ein Irrtum, meint Siemens-Sprecher Enzio von Kühlmann-Stumm; teilnahmslos sei man nicht, aber einfach nicht der richtige Ansprechpartner. Die sitzen nach Meinung von Siemens in Bonn. Denn die Entschädigung ehemaliger ZwangsarbeiterInnen sei eine politische Frage. Die Industrie werde zu Unrecht als Sündenbock dargestellt. Die Manager seien im Dritten Reich gezwungen worden, ZwangsarbeiterInnen zu beschäftigen, behauptet er — obwohl im Revisionsprozeß ein Briefwechsel Himmlers mit seinem General Fellgiebel vorgelegt worden war, nach denen sich Siemens sogar als erster deutscher Konzern um billige Zwangsarbeiter beworben hatte. Außerdem habe die Industrie nur ein Viertel der ZwangsarbeiterInnen beschäftigt; 50 Prozent hätten in der Landwirtschaft, der Rest in kommunalen Einrichtungen gearbeitet.

Auch die Interessenverbände der ZwangsarbeiterInnen wollten eine politische Lösung. Die aber ist 1988 im Bundestag gescheitert. Die Fraktionen der SPD und der Grünen unterstützten die Anliegen der ehemals Verfolgten und brachten eine entsprechende Gesetzesvorlage ein. Sie forderten eine Stiftung aus Bundesmitteln. Die kam nicht zustande, weil CDU und FDP nach wie vor die Anerkennung von ZwangsarbeiterInnen als Opfer des Naziregimes verweigern. Noch im Februar dieses Jahres hat Bundeskanzler Kohl eine Entschädigung für ZwangsarbeiterInnen abgelehnt.

Siemens: Wir sind nicht verantwortlich

Wo sich die Politik verweigert, da sollte jetzt die Justiz entscheiden, so meinten die Verbände. Und die entschied zugunsten der Industrie. Zugunsten jener Industrie, die sich nach Meinung vieler an den billigen Arbeitskräften eine goldene Nase verdient hat. Kühlmann-Stumm, der Siemens-Sprecher, versucht sich mit einem zynischen Argument dagegen zu wehren: Produkte, die mit billigen ZwangsarbeiterInnen produziert wurden, wurden auch schlecht bezahlt.

Ob Waltraud Blass noch weiter gegen den Konzern streiten will, ist ungewiß. Der Prozeß ist „enorm belastend“ für die 71jährige. „Man wird ja immer wieder an alles erinnert“, sagt sie. Erinnert an eine Vergangenheit, die 45 Jahre zurückliegt, die Waltraud Blass noch heute „einen kleinen Teil Selbstbeherrschung“ kostet, wenn sie darüber spricht. Heute gehe es ihr nicht nur ums Geld, sondern um die Anerkennung von Schuld.

Aktion Sühnezeichen will jetzt eine ehemalige Zwangsarbeiterin aus den neuen Bundesländern bei einer Klage gegen Siemens unterstützen. „Wir gehen davon aus, daß die Verjährungsfristen dann anders behandelt werden“, sagt Susanne Willems. Siemens-Sprecher Kühlmann- Stumm erklärt, man könne sich vorstellen, daß man in dem Fall — aus moralischen Gründen — über eine Wiedergutmachung nachdenken wird. Und wenn ZwangsarbeiterInnen aus den neuen Ländern entschädigt würden, könnte man dann noch länger den bundesdeutschen, den AusländerInnen dasselbe verweigern?

1958 haben sich jüdische Verbände, sie sogenannte Claims Conference, rund 50,5 Millionen Mark von fünf deutschen Konzernen erstritten. Siemens beteiligte sich damals mit sieben Millionen Mark. Alle Unternehmen betonten damals, daß die Zahlung ohne Anerkennung einer Rechtspflicht geleistet wurde. Einzelne Bundesländer, Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Berlin, haben Härtefonds eingerichtet, nach denen ZwangsarbeiterInnen entschädigt werden können, die keine staatlichen Leistungen bekommen haben.

Entschädigung — eine Frage der Politik, meinen Siemens-Mitarbeiter, und haben damit ohne Zweifel recht. Aber der politischen Verantwortung kann sich auch der Konzern nicht entziehen, sagen die Geschädigten.