Auch im Osten soll das Wachstum per Auto kommen

Hauptversammlung des VW-Konzerns: Immer mehr Individualverkehr  ■ Aus Berlin Donata Riedel

Wer sich gestern dem Berliner Kongreßzentrum ICC von hinten und zu Fuß näherte, sah sich unvermittelt mit der Kehrseite der Erfolgsstory des Konzerns konfrontiert, der drinnen seine 31. Hauptversammlung abhielt. Für den massenweisen Autoverkehr führen Brücken, Straßen und Tunnel direkt hinein ins Parkhaus. Zu Fuß läßt sich keinesfalls bequem von der S-Bahnstation zum Eingang schlendern — für nichtmotorisierte AktionärInnen blieb nur der Weg durch eine gekachelte Röhre, herum um das Gebäude aus Glas und Beton zum Haupteingang.

Drei Millionen neue Automobile rollten im vergangenen Jahr von den Fließbändern des Volkswagenkonzerns und seiner Töchter auf Straßen in aller Welt. „Das Automobilgeschäft“, so Vorstandsvorsitzender Carl Hahn vor den Tausenden Klein- und wenigen Großaktionären, „ist Spiegelbild der Weltwirtschaft“. In Westeuropa und US-Amerika bröseln seit Beginn der Dekade die Absatzmärkte für Autos ab. Das Sonderkonjunkturland Bundesrepublik hingegen profitierte bis jetzt von der Grenzöffnung im Osten. Und mit ihm Volkswagen. Die Verkäufe von Volkswagen-, Audi- und Seat-Fahrzeugen stiegen im geeinten Deutschland im ersten Halbjahr 1991 gegenüber dem altbundesrepublikanischen Vergleichszeitraum 1989 um 52,3 Prozent auf 686.000 Wagen. Der Marktanteil des größten europäischen Autokonzerns erhöhte sich in Westdeutschland auf 28,1 Prozent, für Ostdeutschland gibt es noch keine entsprechende Statistik. 68,1 Milliarden Mark setzte VW 1990 um, 1,1 Milliarden verbuchte der Konzern als Gewinn.

Der Volkswagen als „klassenloses Automobil“ (Hahn) wird heute bereits in Form von 300 Polos und Golfs täglich im sächsischen Zwickau gefertigt. Das im Bau befindliche neue Werk in Mosel für 250.000 Autos jährlich soll den „Zusatzbedarf decken, den „wir für eine um 25 Prozent vergrößerte Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland benötigen“, sagte der VW-Chef.

Ob der Neuerwerb Skoda in der CSFR, der in den ersten beiden Monaten des Jahres laut Hahn bereits Gewinn gebracht hat, oder die Engagements des Konzerns in China, gemeinsam mit Mercedes in Mexiko oder in Portugal mit Ford: VW investiert in diesem wie im letzten Jahr Milliarden in eine gigantische Ausweitung der Produktionskapazitäten; getragen von der Hoffnung, daß alle 500 Millionen VerbraucherInnen West- und Osteuropas sowie deren demokratisch gewählte PolitikerInnen in gleicher Weise auf das Auto für jedermann und jede Frau setzen wie die Wirtschaftswunder-Westdeutschen. Und dabei gleichermaßen die Produkte des VW-Konzerns bevorzugen.

Gerade letzteren Punkt sehen Wirtschaftsexperten als die große Gefahr für einen der größten Arbeitgeber der Bundesrepublik (1990: 267.997 Beschäftigte weltweit, davon 131.387 in Westdeutschland). Die Unternehmensberater von McKinsey rechnen damit, daß die Japaner in EG-Europa bei freiem Marktzugang doppelt soviele Autos verkaufen könnten wie bisher — zu Lasten der europäischen Autobauer, deren Produkte als nicht so gut und effizient wie die fernöstlichen bewertet wurden. Statt auf freie Marktwirtschaft setzen die Autokonzerne mit Blick auf Japan auf die Politik. Die soll den EG-Binnenmarkt für Autoimporte abschotten.

Vor den Aktionären klammerte Hahn gestern die japanische Gefahr für VW aus, obwohl sie in den kommenden Jahren an der Dividende von elf Mark pro 50-Mark-Aktie zehren dürfte. Auch Verkehrspolitik und Umweltschutz sind auf der diesjährigen Aktionärsversammlung angesichts des im Osten wieder möglich scheinenden Wachstums ein Randthema geblieben. Neben dem Haupteingang des ICC hatte VW den dreimillionste VW-Polo aufgefahren, mit „recyclingfähigen Stoßdämpfern“, klärte das dazugehörige Schild auf. Wie die Wiederverwertung funktioniert, wurde an einer Kunststoffspritzanlage demonstriert: Die Altplaste wurde zu neuem Kinderspielzeug — in der Form eines VW-Käfers, des ersten klassenlosen Massenautos.