KOMMENTAR: Atomare Heimlichkeiten auf dem Balkan
■ Die Industrie arbeitet an der Reaktor-Nachrüstung, nicht an Stromlieferungen
Hinter den Kulissen der europäischen Atomindustrie ist die Aufregung groß. In einer Zeit, wo Energieversorger und Reaktorbauer im Treibhaus Erde auf die Renaissance der Branche setzen, droht der Industrie Unbill aus dem Osten. Erneut sind heruntergekommene Atommeiler russischer Bauart negativ aufgefallen. Bulgarische Experten halten die vier alten 440-Megawatt- Reaktoren in Kosloduj sogar für tausendmal gefährlicher als ihre abgeschalteten Pendants in Greifswald. Den westlichen Atomlobbyisten der Internationalen Atomenergiebehörde standen die Haare zu Berge: sie forderten die Abschaltung.
Der bulgarische Staat hat unterdessen von alten Verhaltensmustern der westlichen Atomindustrie gelernt. Nachdem die Staatsgewalt Informationen nicht mehr so leicht mit Gewalt unter der Decke halten kann, wird eine andere Politik geprobt: Hinhalten und Panikmachen. Ohne AKWs gehen die Lichter aus, das ist die neue Botschaft aus Sofia.
Lassen sich die Verhaltensmuster der bulgarischen Regierung noch klassisch erklären, bleibt die Rolle der Bundesregierung im Fall Kosloduj mysteriös. Bundesumweltminister Klaus Töpfer hatte die bulgarischen Reaktoren aus dem osteuropäischen Dunkel ins helle Licht der Weltöffentlichkeit gezerrt. Das Ministerium verkündet, all seine Hilfe nur für das Abstellen der Schrottreaktoren gewähren zu wollen. Aber warum verheimlicht es dann, daß der Cheftechniker der baugleichen staatlichen Atomruine Greifswald schon vor Ort ist? Welche Rolle spielt die beabsichtigte Lieferung Greifswalder Ersatzteile bei der angestrebten Abschaltung?
Es läuft ein Spiel mit verteilten Rollen. Während Töpfer immer wieder die Abschaltung des Reaktors fordert, scheint die Atomindustrie wider alle Vernunft am Weiterbetrieb der Anlage interessiert. Vor Ort sind die Protagonisten des Europas der Atomkraft: die deutsche und die französische Atomindustrie. Aber das wirklich heikle Problem, woher bei abgeschalteten Reaktoren der Strom des kommenden Winters kommen soll, überlassen die Westindustriellen derweil den Fensterrednern und den Osteuropäern. Hermann-Josef Tenhagen
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