Meine geheimen Jugendgedichte

■ taz-Autorinnen und -Autoren öffnen ihre Schubladen — heute Folge 7: Lokalredakteurin Anja Baum

Zur Erinnerung: Hans-Hermann Kotte ließ sich vom »widersprüchlichen geruch der currywürste im bahnhof« verführen, Katrin Bettina Müller würdigte einen Jüngling, »starr beinah' wie ein Automat«, André Meier widmete sich den »schönen Verlierern im ungleichen Kampf«, Ute Scheub wiederum den »frei assoziierten Individuen«, André Beck den »besoffenen Blättern in den Alleen« und Dorothee Hackenberg dem »wehmütigen Wolf«, der »weint wann immer er will«. Auch heute soll sich wieder das früh- bis spätpubertäre Jugendgedicht mit seinen geheimsten Leidenschaften, Antriebsfedern und ausgefeiltesten Verzweiflungen wie ein Ozonstrahl niederbrennen, so daß Dammbrüche und Werften verlassener Positionen und Stilübungen kenntlich gemacht und gemeinsam verarbeitet werden können.

Heute setzen wir unsere Serie fort mit Vorwendewerken der Lokalredakteurin Anja Baum, Jahrgang 1966. Sie entstanden — vor ihrer Projektzeit bei der taz — in den Jahren 1984-87. Erste Gedichte — der Schulzeit an der Kollwitz-EOS in Berlin abgerungen — formten sich im Dunstkreis der »Hirschbeutel«-Clique, die im Gegensatz zu den Kurzhaar- Poppern »übers Leben nachdachte«; weitere erschlossen sich im Anschluß an ein Volontariat bei der 'Jungen Welt‘ und die Flucht aus dem Elternhaus im kollektiven Einzelkampf des Studentinnen- und Liebeslebens an der Leipziger Karl-Marx-Universität.

Schiffbrüchig

An deinen Klippen

zerschellt, fall ich zurück

ins Meer gebrochen

ziellos irren die

Einzelteile umher

jedes schwimmt auf einer

anderen Welle davon

um als Strandgut zu landen

in die Hände eifriger Urlauber

Souvenir hinter der Glasvitrine

Tagflugverbot

Es bleibt nur die Nacht

um zu fliegen,

den Gedanken lehren

ihre Flügel zu gebrauchen.

In dunkle Schatten ist alles getaucht,

keine abgehackten,

von der Realität geschärften Konturen.

Die in Plaste geschweißten Gefühle

befreien sich von ihren Schutzhäuten.

Dann, aber im Zustand der Schwebe,

des NICHT-HIER-und-NICHT-DORT-SEINS

heißt es:

Plötzliche Notlandung.

Abbruch im Höhepunkt

des ekstatischen Tanzes.

Das Ziehen

der lenkenden Fäden

ist wieder spürbar.

Domino-Spiel

Immer den passenden Stein

Anlegen nur so geht es

Vorwärts zurück bleibt wer

Aussetzt alles ist möglich oder

Nichts geht mehr ich passe

Einer springt in die Lücke

Mein Platz wird besetzt

Und ich so viele Punkte noch

In der Hand warte

Wie meine Steine fallen

Sandspiele

Trunken tauchen wir

aus unserer Sandmulde

hoch und sehen

auf den Gräserwipfeln

zwei verwirrte Marienkäfer.

Dein Lächeln springt

auf meinen Mund und

die Blicke gehen weiter

auf Suche.

sah als kind dich

oft am großen hauklotz

hinterm haus

frisch geschärft das beil

in deiner hand erhoben

kraftvoll saust es nieder

blitzschnell aufs runde

ganze holz

halbiert

geviertelt

nach dir ging ich

einsammeln die scheite

viel später erst

fiel mir auf

wie sie deiner seele glichen

Straßenschlucht

Am Ende erst Flucht

Punkt in Horizontnähe

Nadelöhrenge — ich zwinge mich

Durch die graue Schlucht

Mit jedem Schritt vorwärts

Auf schimmrig feuchten Asphalt

Rieselt Staub ineinandergestürzter

Häusergesichter mit leeren Augenhöhlen

Der Stuck bricht ab und

Mäuler sind nun gestopft

Hinter mir alles

Laß ich mich ein

Auf den Versuch

Komm

schwarzer Vogel

Komm

Die Schlinge um den Hals

Warf ich dir

Doch nicht

Flieg

Trauriger Vogel

Flieg

Vergiß die gestutzten Flügel oder

Sind sie dir nur lahm

Komm

Stolzer Vogel

Komm

Vom schwankenden Ast und

Zeig mir deine Höhen