GOTT UND PFARRER REGIEREN

■ Zwischen Cottbus und Bautzen lebt die ethnische Minderheit der Sorben. Sie bewahren eine Kultur mit Seltensheitswert, deren Fortbestand bedroht ist.

Zwischen Cottbus und Bautzen lebt die ethnische Minderheit der Sorben.

Sie bewahren eine Kultur mit Seltenheitswert, deren Fortbestand bedroht ist.

VONSIMONEVONSTORCH

Hinter Dresden endet der Ausbau der Autobahn, und die Straße Richtung Bautzen holpert einspurig weiter, vorbei an träumerischen Hügellandschaften und kleinen Dörfchen. Fern der Autobahn säumt hin und wieder ein kleines Kreuz den Wegesrand, dicht daneben ein zweisprachiges Ortseingangsschild. Ein kleiner Prozessionszug kreuzt die Straße, an der Spitze der Priester; die Männer tragen Schwarz und ihr Gesangbuch erfurchtsvoll; die Mädchen haben die Zöpfe geflochten; hinter ihnen laufen die Frauen in Trachten und großen kunstvoll gebundenen Kopftüchern. Singend zieht die kleine Gemeinde unter der Mittagssonne die kopfsteingepflasterte Dorfstraße entlang, neugierig gaffende Fremde unbeachtet am Straßenrand zurücklassend.

Angekommen in Ralbitz, einem der etwa zwanzig kleinen sorbischen Dörfer in der Oberlausitz, zwanzig Kilometer nordwestlich von Bautzen, dreißig Kilometer von der polnischen Grenze entfernt.

Die Umgangssprache im Dorf ist Sorbisch, eine eigene slawische Sprache, die sich durch die Jahrhunderte in dieser Region gehalten hat. Treffen sich die Frauen beim Einkauf im Konsum, dann sagt die eine zu der anderen „Budz chwalen Jesus Chryst!“ (Gelobt sei Jesus Christus!), und die Antwort heißt dann „Na weki amen“ (In Ewigkeit, Amen).

Wenn in Ralbitz zwei heiraten wollen, dann trägt ein Bote die Nachricht von Haus zu Haus und lädt die Hochzeitsgäste. Aus den Häusern strecken sich dann neugierige Köpfe, um zu sehen, wer eingeladen wird, aber dann ist es — wie immer — doch das ganze Dorf. Es ist noch gar nicht so lange her, daß der Bräutigam vor der Hochzeit bei den Eltern der Braut vorgesprochen hat. Und es soll nicht selten gewesen sein, daß er dann doch die andere Tochter genommen hat, die älter ist und schielt, aber dafür zwei Kühe mehr mit in die Ehe bringt. Aber das sind Legenden, die erzählt man sich in Ralbitz, und keiner weiß mehr so genau, ob die Geschichte sich wirklich zugetragen hat.

Frondienste und Abgaben

Seit dem 5.Jahrhundert besiedeln die Sorben das Gebiet zwischen Oder und Saale. Im 9.Jahrhundert, mit dem agrarischen Aufschwung und den ersten germanischen Besiedlungen dieses Sumpf- und Waldgebietes im Osten sind die Sorben der Feudalherrschaft deutscher Markgrafen unterworfen worden. Frondienste und Abgaben — erst in Naturalien, später in Geld — bestimmten fortan das bäuerliche Leben der Sorben, Germanisierungsschübe und Versuche, die sorbische Sprache und Kultur zu unterdrücken, folgten einander durch die Jahrhunderte hinweg. Mitten durch das Siedlungsgebiet verlief im 16.Jahrhundert die Grenze zwischen dem katholischen Kurfürstentum Sachsen und dem lutherischen Kurfürstentum Brandenburg und trieb einen Keil zwischen Sorben aus der Oberlausitz und Sorben aus der Niederlausitz. Später trennte die sächsisch-preußische Landesgrenze das sorbische Volk in zwei Teile, und noch heute heißt es bei einer Heirat zwischen Ober- und Niedersorben abschätzig: „Die heiratet nach Preußen rüber.“

Die Sorben sind durch Teilung, Unterdrückung und Integrationsversuche im Gang der Geschichte zusammengeschmolzen. Ungefähr 50.000 Sorben sollen heute noch in den Landstrichen zwischen Cottbus und Bautzen siedeln, aber gezählt hat sie schon lange keiner mehr. Wesentlich geringer ist die Zahl derer, die Sorbisch als erste Sprache sprechen, und so besitzt die Gemeinde von Ralbitz heute fast Seltenheitswert.

Links am Dorfplatz, gegenüber der Kirche, wohnen in einem ehemaligen kleinen Bauernhäuschen mit einigen Hektar Wiese hintendran der Küster Zur und seine Familie. Zum wöchentlichen Gottesdienst läutet Zur die Glocken — oft oben im Glockenturm mit der Hand, denn „die Elektrik funktioniert manchmal nicht so“. Er muß die Messe vorbereiten und an Festtagen die Kirche schmücken. Das macht er seit über 40 Jahren.

Herr Zur hat schon einiges miterlebt: Mehrere Pfarrer sind gekommen und gegangen, dann die unzähligen Feste, die Hochzeiten, Beerdigungen, Taufen und den Krieg und den Sozialismus.

Sowjetrussen als Befreier

Ja, der Krieg. Im April 1945 verlief die Front zwischen Deutschen und Russen direkt durch Ralbitz. „Wenn die Russen kamen, haben wir schnell die weiße Fahne rausgehangen, und wenn die Großdeutschen anrollten, die nationalsozialistische, das war ein Durcheinander.“

Die Mehrzahl der Sorben empfing die Russen als Befreier, so erzählt es Herr Zur. Immerhin sicherten sie das Überleben des sorbischen Volkes. Denn seit Anfang der Vierziger existierten in den Schubladen der Nationalsozialisten Pläne, das sorbische Volk in die belorussischen Sümpfe oder zum Untertagebau nach Elsaß- Lothringen zu deportieren. Seit 1937 schon waren die Domowina, die Organisation der Sorben, sowie die sorbische Sprache verboten worden, sorbische Priester wurden zwangsversetzt oder nach Polen in die Lager verschleppt.

Noch während des Rückzugs der deutschen Armee zerbombten die Nazis sorbische Dörfer, steckten Häuser und Gehöfte in Brand. „Von unserem Haus stand nur noch der Küchentisch, auf ihm ein Marienbild und das Christuskreuz.“ So hat man sich darangemacht, das Häuschen wieder aufzubauen mit dem Schutt aus den anderen zerstörten Gebäuden. Das Christuskreuz hängt jetzt vor dem Wohnzimmerfenster, versehen mit einem ewigen Licht.

Im Mai 1945 wurde die Domowina wieder zugelassen, ebenso der „LiLija“, der sorbische Männerchor, und andere Kulturvereine. „Die alten Herren sind verschwunden, des Volkes schöpferische Kräfte entfalten sich frei“, so liest sich diese „Stunde Null“ im sozialistischen Fremdenführer.

Im März 1948 wurde in Sachsen das „Gesetz zur Wahrung der Rechte der Sorben“ verabschiedet und 1949 in der Verfassung der DDR die Förderung der sorbischen Kultur verankert.

Was 1945 als Befreiung erschien, warf schon bald neue Probleme auf. In den Kreisverbänden der Domowina wurden Parteileute aus Berlin eingesetzt, die organisierten Schulungskurse und Parteiveranstaltungen und brachten die sorbisch-bäuerlichen Köpfe durcheinander.

Nach und nach wurden die kleinen bäuerlichen Gehöfte zu LPGs zusammengeschlossen, Parteileute aus der Stadt sind mit Megaphonen durch die Dörfer gerollt und haben Reklame gemacht. Den sorbischen Bauern erschienen die Genossenschaften suspekt, konnten sich doch einige noch an die Erzählungen der Großväter erinnern, die nicht auf dem eigenen, sondern auf gutsherrlichem Land geackert hatten. Aber die Genossenschaften besaßen Maschinen, und die Parteileute versprachen den Bauern die Wunder vom Himmel herunter.

Vorzeige-Minderheit der DDR

„Nova Doba“, so hieß die erste LPG in Ralbitz: „Neue Zeit“. Die neue Zeit ist laut und mit grellen Farben in die Lausitz gekommen: „Gemeinsam beim Aufbau des Sozialismus“; rote Plakate mit Hammer und Sichel säumten den Dorfplatz vor der Kirche; die alten Bäume hatte man abgeholzt, um dort freie Flächen zu haben. Zum Beispiel für das jährlich stattfindende Volksfest der Sorben. Dort redeten vom Podium wechselnde Funktionäre über bleibende Traditionen im Sorbenlande, eine Blaskapelle der Nationalen Volksarmee schmetterte vor dem Auftritt der sorbischen Tanz- und Folkloregruppen sozialistische Märsche, und zur Eröffnung der Feierlichkeit stimmte der Armeechor gemeinsam mit dem Gesangsverein der Sorben die sorbische Hymne an: „Noch sind die Sorben nicht verloren.“ Gemeinsam sang man zum Abschluß die „Internationale“, nur der Pfarrer hatte die Lippen fest aufeinandergepreßt und weigerte sich, die katholisch geschulte Stimme vergesellschaften zu lassen.

Die Deutsche Demokratische Republik hatte ihre Vorzeige-Minderheit, kulturelle Vielfalt vor Ort; das traditionelle sorbische Osterreiten flimmerte über die Bildschirme der gesamten Republik.

Mit Unterstützung der SED besaß die Organisation der Sorben eine eigene Zeitung, einen Verlag sorbischsprachiger Bücher und sogar eine eigene Rundfunkanstalt, die täglich mehrere Stunden Nachrichten und Neuigkeiten auf sorbisch sendete — eine Politik aus dem Wechselspiel zwischen Tolerierung und sozialer Einbindung dieser ersten und einzigen „Minderheit“ in der Deutschen Demokratischen Republik.

Ganz leicht hat es die DDR mit den Sorben nicht gehabt, denn hier regieren Gott und der Pfarrer, in Ewigkeit Amen! In allen Klassenräumen der sorbischen Oberschule in Ralbitz hängen Kruzifixe, die haben schon so manches Porträt von Staatsoberhäuptern überlebt.

„Wenn Allerheiligen war oder Fronleichnam, dann hat niemand sein Kind in die Schule geschickt“, erzählt Paul Rothe, einer von den dreißig Lehrern der Ralbitzer Schule. Trotz der Kontrollanrufe aus Berlin und der wiederholten Mahnungen wird in der Lausitz katholisch gefeiert. 95 Prozent Kirchgänger hat die Gemeinde Ralbitz zu verzeichnen, bei den restlichen 5 Prozent, den Alten und Kranken, stattet Pfarrer Wicaz regelmäßig Besuche ab. Die meisten Kinder gingen statt zur Jugendweihe der FDJ zur Kommunion. Ansonsten hat man sich gekümmert, daß es sich einigermaßen leben läßt, hat sich wenig um die Politik der Zentrale der DDR geschert und später auch die deutsch-deutsche Vereinigung mit Abstand betrachtet.

Ungewißheit nach der „Wende“

Doch wenn es jetzt um die Zukunft der Sorben in ihrer politischen Organisation geht, da ist das Volk, so klein es ist, in zahllose Gruppierungen und Grüppchen zersplittert. „Bei uns ist jeder Dritte ein Extremist und radikaler Verfechter seiner Ideen“, so beschreibt Maria Krawcec die politische Situation in der Lausitz. Als Schriftstellerin gehört sie dem Verband sorbischer Schriftsteller an und setzt sich innerhalb der Domowina für Reformen ein. Denn die Domowina galt als parteikonform, und ein personeller Wechsel in den Büros hat nach der Wende noch nicht stattgefunden.

Der katholische Pfarrer Wicaz aus Ralbitz, Mitglied im Verein der katholischen Sorben, den „Fundamentalisten“ der sorbischen Bewegung, würde am liebsten sehen, wenn sich die Domowina fürs erste ganz auflösen würde, vor allem aber soll man sich von den „Rothemden“ trennen. Der Verein katholischer Sorben setzt sich für eine konservativ geprägte kulturelle Autonomie der Sorben mit einem starken kirchlichen Einfluß ein.

Auch die Vereinigung sorbischer Intellektueller kämpft für die Kulturautonomie der Sorben. Sorbe sein soll fortan, wer der sorbischen Sprache mächtig und bereit ist, sich in die religiösen und traditionellen Normen einzupassen. Damit will man sich vor „Überfremdung“ schützen, wie es etwas unbedacht aus einigen Mündern tönt.

Auf die Sorben kommen mit den Auswirkungen der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen seit der Wende Probleme ganz anderer Art zu: Das Gebiet um Bautzen herum ist agrarisch strukturiert, so weist es eine notdürftig im Landratsamt erstellte Studie aus. Nachdem die LPGs im Frühjahr fast vollständig ihren Betrieb eingestellt haben, liegt das Land brach, und die meisten Arbeiter, derzeit in der Warteschleife, sitzen bald ganz auf der Straße. Um sich selbständig zu machen, dazu fehlt es an Geräten und an Kapital, auch ist der Boden in den letzten Jahren durch Überdüngung und Überpflanzung systematisch ausgelaugt worden. Ein einziger Bauer im Kreis Kamenz hat sich bislang selbständig gemacht, mit einer Bodenfläche von etwa 500 Hektar. „Auch eine Art, sich umzubringen!“ meint Maria Krawcec, Kreisvorsitzende der Domowina in Kamenz. Staatliche Subventionen in der Region seien dringend notwendig, gleichzeitig müsse verhindert werden, daß fremde Investoren die Gunst der Stunde nutzen, um sich billig in der Lausitz einzukaufen.

Auf dem wöchentlichen Markt stehen derzeit neben den Ständen mit sorgsam aufgeschichteten Tomaten, Karotten und hutzeligen Äpfeln aus den sorbischen Gärten riesige Lastwagen aus Holland. Am Abend vorher ist man dort losgefahren, um hier, im östlichsten Winkel Deutschlands, die holländischen Tomaten, Salate und Gurken anzubieten. „Die schreien so laut und sind so clever, geben noch eine Wurst gratis zu jedem Einkauf, und schon laufen die Leute zu den Holländern, und unsere Verkäufer stehen schweigend daneben.“ Sich zu wehren und weit den Mund aufzureißen, das habe man hier nie gelernt. Frau Zuraz streicht sich die Haare aus dem Gesicht, während sie erzählt. Sie selbst ist nach langen Jahren Arbeit in der LPG jetzt ohne Arbeit, ihr Mann bezieht eine bescheidene Invalidenrente und als Künstler noch 100 Mark zusätzlich von der Kirche.

Manch einer fragt sich, was aus den Sorben werden wird. Wo die Bundesregierung in Bonn sich derzeit für eine kulturelle Autonomie der deutschsprachigen Minderheit in Polen einsetzt, wird man auch das kuriose Völkchen im Spreewald und in der Lausitz nicht vergessen. Zwölf Millionen jährlich sind der Domowina im Frühjahr dieses Jahres zugesichert worden für den Druck von neuen Schulbüchern, sorbischsprachiger Lektüre, für Theater-, Tanz- und Folkloregruppen. Für kulturelle Unterstützung also scheint gesorgt. So wird das sorbische Osterreiten demnächst vielleicht gesamtdeutsch über die Bildschirme flimmern.

Massenarbeitslosigkeit und Landflucht

Strukturverbessernde Subventionen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich fehlen derzeit jedoch, und die Folgen der wirtschaftlichen Situation sind unmittelbar sichtbar: eine Massenarbeitslosigkeit, die Schätzungen zufolge die 50-Prozent- Marke überschreiten soll, wenn im Sommer die ehemaligen LPG-Arbeiter aus der Warteschleife entlassen werden. Ein Großteil der jungen Leute aus den sorbischen Dörfern ist gezwungen, die Heimat zu verlassen, um eine Arbeits- und Ausbildungsstätte zu bekommen. Diese Wanderbewegung bedroht aufs neue die Kultur der Sorben.

Zwanzig Kilometer nördlich von Bautzen liegen die Dörfer der Gemeinde Schleife. Seit Jahren laufen hier die Braunkohleförderbänder, und die Bagger schaufeln tagtäglich mit jedem Stück Erde den Sorben ihren Mutterboden unter den Füßen weg. Die meisten Dörfer sind entvölkert, ausgestorben liegt die Dorfstraße in der Abendsonne, durch die kahlen Fenster und offen stehenden Türen sieht man auf abgerissene Tapeten und liegengelassene Möbel als Zeichen eines schnellen und unfreiwilligen Aufbruchs. Die Dorfbewohner sind in den letzten Jahren nach und nach in fernbeheizte Vorstadtwohnungen umgesiedelt worden. In einem dieser kleinen Dörfer haben die Einwohner Widerstand geleistet. Sie haben Protestbänder auf sorbisch aus den Häusern gehangen und sind trotzig wohnen geblieben. Heute sind die Häuserwände und Fenster mit einer dicken Schicht Braunkohlestaub überzogen, und tagtäglich ist das monotone Gerumpel der Förderbänder zu hören. Nachdem der Boden rund um die Dörfer verwüstet ist, haben auch die letzten Familien aufgegeben und wollen sich umsiedeln lassen. Die Abfindungskosten sind ein wenig höher als früher, sonst hat sich nicht viel geändert.

Aber noch sitzen in Ralbitz die Männer abends zusammen und spielen Karten wie ihre Väter, erzählen sich Geschichten, die die Väter erzählt haben, und schimpfen übers Wetter und alles, was neu ist. Und das Neue ist grundsätzlich schlechter als das Alte, dies weiß man hier und nickt bedächtig mit dem sorbisch eigensinnigen Kopf.

Und noch begrüßt man sich in Ralbitz auf sorbisch und ebenso verabschiedet man sich auch: „Bozemje!“ (In Gottes Namen). „Prindz strowy zas!“ (Komm gesund wieder). „Boh daw!“ (Gott geb's).