Schrecken und Verzückung

Ariane Mnouchkines „Les Atrides“ beim „Theater der Welt“ in Essen  ■ Von Sabine Seifert

Ariane Mnouchkine hat einen Umweg gemacht. Eigentlich wollte sie ein Stück über die französische Résistance inszenieren, an dem ihre Freundin Hélène Cixous schreibt. Bei den Vorarbeiten wurde sie unsicher, fand die richtige Form nicht — was heißt Realismus auf der Bühne und was heißt das für ein zeitgenössiches Stück? Sie fing von vorne an, ging zurück zu den Ursprüngen des modernen Theaters, zu Euripides und Aischylos. Dort fand Mnouchkine die formalen Mittel, die jene Distanz ermöglichen, die uns Zugang zu dem antiken Stoff verschaffen, der Familienkrieg und Länderkrieg, Geschlechterkampf und politischen Kampf in eins setzt. Der Umweg hat gelohnt.

Unterhalb der Sitzempore für die Zuschauer in der Essener Messehalle befinden sich die — wie immer beim ThéÛtre du Soleil — einsehbaren Garderoben für die Schauspieler. Jeder verfügt über seinen individuell mit Spiegel, Pinseln und Flacons ausgestatteten Ankleideplatz. Einstimmung auf einen Theaterabend, der sich allein durch seine Farbkompositionen, die phantasievollen Kostüme, die ruhige Gestimmtheit der Bühne vom grauen Einerlei der Stadt Essen und vom kunstbunten Blumenbeetarrangement des Grugafreizeitparks abhebt. Bis zuletzt bleiben die Darsteller in ihren Kostümen und Rollen, auch während der donnernden Applauswellen, die sie immer wieder tänzelnd an die Bühnenrampe spülen. Bis zum Schluß können die Schauspieler sich in der Illusion wiegen, ins Spiel mit einbezogen zu sein.

Im antiken Drama übernahm der Chor die Rolle des Publikums. Er erzählte, kommentierte, berichtigte die Geschichte und gab ihr womöglich einen anderen Verlauf. Wie zu einer Speerspitze aufgebaut kommt der Chor auf die Bühne getanzt; mit seinen gelbroten bauschigen Kleidern, dem Kopfschmuck und dem Bauchgebinde sehen die Tänzer und Tänzerinnen aus wie asiatische Tempeltänzerinnen und sind doch die Frauen von Chalkis aus Euripides' Iphigenie in Aulis, die Mnouchkine ihrer Tetralogie der zeitlich früher entstandenen Orestie von Aischylos voranstellt. Ein dramaturgischer Kniff, um die blutige Vorgeschichte zu Klytämnestras Rache an ihrem Mann Agamemnon zu erzählen. Sie wird ihn töten, weil er, um die Göttin Artemis um günstigen Wind für seine Schlachtschiffe zu bitten, die gemeinsame Tochter Iphigenie opfert.

Der Chor tanzt, der Chor stampft, der Chor fliegt; Hände und Beine vollführen kleine abgezirkelte Bewegungen und Halbkreise wie im indischen Tanz. Kostüme und Choreografie sind Phantasieprodukte, kunstvolle Verschmelzung von Elementen der indischen, chinesischen und japanischen Kultur mit der griechischen Antike und der Folklore von heute. Rechts neben der leeren Bühnenarena aus hellem Holz, die die mittägliche Ruhe eines südlichen Platzes ausstrahlt, ist das Klangimperium von Jean-Jacques Lemêtre und Maria Serao aufgebaut. Die Musik, überwiegend Schlag- und Streichinstrumente, teils orientalischer, teils europäischer Herkunft, changiert irgendwo zwischen Theodorakis und Ravi Shankar, manchmal etwas zu vollmundig, zu dicht.

Die Männer tragen Kleider, in kräftigen komplementären Farben und mit aufgebauschten Röcken, die ihnen nur mit gespreizten Beinen zu sitzen erlauben. Simon Abkarian und Georges Bigot wechseln einander in den männlichen Hauptrollen ab. Die Gesichter sind weiß geschminkt, ins Haupthaar sind lange afrikanische Haarzöpfe eingeflochten, die auch einen prächtigen Bart machen. Die Augen sind ein schräger schwarzer Strich, die Münder knallrot.

Menelaos und Agamemnon beratschlagen. Sie haben Klytämnestra und ihre Tochter Iphigenie unter dem Vorwand ins Lager gelockt, Iphigenie mit Achill zu vermählen. Der gefoppte Achill schaut noch einmal eitel in den Spiegel und streicht sich über sein goldenes Ohrgehänge, bevor er der Mutter, seiner vermeintlichen Braut, entgegentritt. Der Schwindel fliegt auf, Achill schwört, Klytämnestra gegen den finsteren Plan ihres Mannes zu helfen — wenn es sich denn nicht vermeiden läßt.

Aber Agamemnons Vorhaben steht fest, er versucht seiner Tochter aus dem Weg zu gehen. Nirupama Nityanandan verkörpert Iphigenie als kleines zartes Mädchen, einfach und ganz in weiß gekleidet, das sich zwischen die Rockschöße ihres Vaters schmiegt, kindliche Unschuld gegen väterliches Schuldbewußtsein, paternalistische Machtanwandlung und Staatsräson ausspielt. Allmählich begreift sie den Plan ihres Vaters, der Chor der Frauen ist ängstlich lauernd hinter die Mauern zurückgewichen. Klytämnestra liegt zerstört am Boden und wird sich bis zum Ende nicht mehr erheben, auch wenn Iphigenie den Entschluß faßt, den Tod zu akzeptieren. Langsam fällt diese in die Tanzschritte der Chorführerin ein, tanzt sich Schritt für Schritt in todesmutige und -sehnsüchtige Trance. Allein besteigt Iphigenie den großen Karren, der sie zum Altar bringen wird und bettet ihr Haupt auf einer kleinen weißen Nackenrolle — anrührendes Symbol ihrer Enthauptung.

Zum Ende jeden Teils erklingt das Geheul der Rachehunde. Mit Agamemnon, dem zweiten Teil von Ariane Mnouchkines Atriden-Zyklus, beginnt die dreiteilige Orestie von Aischylos. Zehn Jahre sind vergangen (und 40 Jahre liegen zwischen Aischylos und Euripides) seit Iphigenies Opferung, seitdem Agamemnon und und sein Bruder Menelaos in den Krieg gegen Troja gezogen waren. Der Chor ist altersschwach geworden, nur greise, weißhaarige und -bärtige Männer sind in der Stadt zurückgeblieben. Sie torkeln und schwanken mehr, als daß sie tanzen, manch einer muß sich schon mal hinsetzen, weil er nicht mehr kann. Aischylos Stück berichtet mehr, wirkt — an diesem zweiten Abend — statuarischer und schwerfälliger.

Zehn Jahre hat Klytämnestra gewartet, bis sie sich an Agamemnon rächen kann, der als Kriegsbeute Kassandra (wiederum dargestellt von Nirupama Nityanandan) mit nach Hause bringt. Juliana Carneiro da Cunha spielt Klytämnestra, ihr fast nacktes Gesicht ist meist ins Weinerliche verzogen. Als Agamemnon auf einem hohen Siegerkarren eintrifft, beginnt sie zunächst, wie um die Begegnung mit ihrem Mann herauszuschieben, vor ihm werbend zu tanzen. Dann begrüßt sie ihn und legt sich mit eisernem Griff in seine Arme. So fährt das unglückliche Paar ab, in gefrorenem Gestus.

Reinigt eine Rachetat, ist sie befreiend? Klytemnästra betrachtet nach vollbrachter Tat glücklich lächelnd ihre Hände, während der Männerchor mit Stöcken auf sie zeigt und ihren Liebhaber Aeghistos bespuckt. Sie ist zu ihrem Recht gekommen; die Rache entstellt sie nicht, macht sie nicht zur weitermordenden Furie. Eng umschlungen und in einen innigen Kuß versunken fahren Aeghistos und Klytämnestra davon.

Sie liebt Aeghistos, davon zeugt der nächste Akt, Die Choeophoren. Wieder sind zehn Jahre vergangen, Klytämnestras Sohn Orest kehrt aus der Verbannung zurück. Der Chor, nun ganz in schwarz, ist dynamisch wie nie zuvor. Längst ist er hoffnungslos verstrickt in die blutrünstige Geschichte der Atriden. Als sich Orest und seine Schwester Elektra vor Agamemnons Grabstein begegnen, zwingt die Koryphäe (Catherine Schaub), die Chorführerin, die verdrängte Familiengeschichte ans Licht.

Die Choeophoren ist dramatisch, hat aber auch komische Einlagen. Mit hoher Fistelstimme klagt die Amme Orests (Simon Abkarian, der gleichfalls Orest spielt) über dessen vermeintlichen Tod. Charleys Tante, antik. Sie wiegt sich kokett in den dicken Hüften und gibt sich bald getröstet, als sie vom Chor die halbe Wahrheit erfährt. Orest hat sich mit einer List in den Palast seiner Mutter eingeschlichen, dort entwindet er sich ihrer Umarmung und treibt sie in den Tod.

Blutbesudelt steht Orest am Ende neben dem Totenlager von Klytämnestra und Aeghistos, das er als Beute — wie einst seine Mutter die Bettstatt Agamemnons und Kassandras — demonstrativ nach draußen gezerrt hat. Langsam dämmert es ihm, die Hunde schlagen an; vergebens versucht er die Leichenstätte wegzuschaffen, was ihm — eindrucksvolles Schlußbild — unter Schwerstarbeit, nur mit Hilfe des Chors und Elektras, gelingt. Die schuldhafte Verstrickung hat ihren Höhe- und vorläufigen Endpunkt gefunden. Im Herbst ist Premiere des vierten und letzten Teils, der Eumeniden.

„Wir mußten (...) die Fähigkeit entwickeln, einerseits alles, was unserem Verständnis zugänglich ist, zu verstehen und andererseits zuzulassen, daß es für Augenblicke wichtig ist, nicht zu begreifen, sondern uns ergreifen zu lassen“, sagt Ariane Mnouchkine in einem Interview in 'Theater heute‘. Gemeint ist Iphigenies Tod, ihre Opferbereitschaft; gemeint ist auch jenes ekstatische Moment, das die Beteiligten in „Schrecken und Verzückung“ (Mnouchkine) versetzt. Man ahnt, worauf Mnouchkines Arbeit zur Résistance hinauslaufen könnte.

Das ThéÛtre du Soleil gastiert mit Les Atrides Ende September während der Berliner Festwochen auf dem DEFA-Gelände in Babelsberg.