GASTKOMMENTARE
: Selbstbestimmungsrecht

■ Der Beschluß der Nationalen Konferenz in Addis Abeba ist ein historisches Ereignis

Die Meldung über die Einigung der nationalen Konferenz, die seit Anfang des Monats in Addis Abeba tagt, jeder Region und jeder Volksgruppe das Recht auf Selbstbestimmung zuzuerkennen, ist ein historisches Ereignis. Auch wenn es nur die schwache Übergangsregierung der EPRDF ist, die damit der potentiellen Auflösung der Zentralgewalt zustimmt, auch wenn damit nur Realitäten wie der faktischen Selbständigkeit Eritreas, der „nur“ noch die völkerrechtliche Anerkennung fehlt, Rechnung getragen wird. Ein Gordischer Knoten, nicht nur in Äthiopien, ist damit durchschlagen, nun eröffnen sich zahlreiche politische Optionen zwischen den Extremen staatlicher Abtrennung und Status quo, die bisher die Fronten bestimmten und verhärteten.

Für viele Autonomie-Bestrebungen in Afrika gibt das Aufwind. Und für viele Regierungen muß der Bruch des jahrzehntelangen Tabus ein gelinder Schock sein. Anders als die Unabhängigkeitserklärung Nordsomalias vor vier Monaten, die überall unter den Teppich gekehrt wurde, kann die Entscheidung des runden Tisches in Addis Abeba nicht mehr so ohne weiteres ignoriert werden.

Die Probleme beginnen mit der Praxis. Wer ist ein Volk? Wer eine Volksgruppe? Wer hat das Recht auf Selbstbestimmung? Und was geschieht, wenn tatsächlich, sagen wir: die Oromo auf Selbständigkeit pochen und damit Äthiopien halbieren würden? Oder die Afar und Issa in Eritrea die Probe aufs Exempel machen?

Und noch etwas: Selbstbestimmung gegenüber anderen Völkern, Volksgruppen und Regierungen besagt noch wenig über die Selbstbestimmung der Menschen über ihr eigenes Schicksal, über ihre eigenen Lebensbedingungen, über das Land, das sie bebauen, über die Produkte, die sie herstellen, über die Zukunftsvorstellungen, die sie haben. Aber vielleicht können sich Regierungen, Parteien, Bewegungen, Politiker und nicht zuletzt die Bevölkerungen selbst ja bessser auf die Lösung dieser grundlegenden Probleme konzentrieren, wenn der Kampf um das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ beendet ist. Uwe Hoering